Zarin der Vampire: Blut der Sünde. Horror-Mystery-Thriller (German Edition)
scherzhaft, aber in Russland sagen wir, dass in jedem Spaß ein Quäntchen Wahrheit steckt.
Er war wohl in Sorge.
„ Man weiß nie“, orakelte ich.
„ Ich muss jetzt aber gehen. Wir sehen uns. Schreib mir, Gordon!“ Ich ließ keine Widerrede zu und stand auf.
Gordon von Mirbach errötete etwas. Die private Anrede erschien ihm ungewohnt.
Geflissentlich eilte er herbei, um mir beim Aufstehen zu helfen. Ich ließ es zu. Ohne zurückzusehen, verließ ich das Restaurant. Viele Blicke folgten mir.
Ich würde leider nie wieder hierherkommen.
Sankt Petersburg am 31. Dezember 1916
Mama schien nicht mehr bei Sinnen zu sein. Sie zuckte sprachlos, als rang sie um Worte. War uns die Welt am Morgen trotz des Krieges noch warm, licht und wundervoll erschienen, drang nun die Düsternis der Vergänglichkeit unbarmherzig durch jede Ritze. Das Grauen lauerte um uns herum und streckte seine Krallen aus.
Ljoschka, der mein Bruder und zugleich der kleine Zarewitsch war, hatte sich angstvoll an unsere Mutter gepresst. Ihre Weinattacken wurden von heftigen Krämpfen begleitet. Sein Haar war ganz nass von ihren Tränen. Sogar auf seiner Matrosenuniform zeigten sich dunkle Flecken.
Wir wagten kein Wort zu sagen – gleich Kaninchen beim Anblick des Fuchses – und warteten gebannt und voller Schrecken auf das Kommende. Eine Standuhr schlug im Nebenraum. Der tiefe Gong erinnerte mich an die Glocken des Friedhofs. Meine feinen Haare auf den Armen standen zu Berge. So musste es sich anfühlen, wenn der Tod tatsächlich nahte.
Da ich mit meinen zweiundzwanzig Jahren die Älteste von uns Geschwistern war, musste ich mich aber zusammennehmen. Auch ich wollte eigentlich weinen und mich so erleichtern, doch das Alter und meine Rolle zwangen mich zur Räson. Wer sollte den anderen Halt geben, wo schon Mama uns alle so erschreckte? Ihr Zusammenbruch ließ uns die Unsicherheit der gesamten Welt, die Verletzlichkeit unserer kleinen Familie erkennen. All unsere Vorstellungen sind letztlich nur Konstrukte – wie Häuser, die aus Klötzen errichtet wurden. Entfernt man ein tragendes Teil, bricht gleich das ganze Gebäude zusammen.
„ Sein Segen wird mich auf dem schmerzvollen Weg begleiten, den ich hienieden noch zu wandeln habe“, flüsterte meine Mama.
Mich fröstelte. Was bedeutete das? In diesem Moment war mir noch nicht klar gewesen, dass nur zehn Wochen später eine Revolution die verborgene Bedeutung offenlegen würde.
Endlich vernahmen wir die lange erwarteten Schritte. Es waren seine. Wir alle hoben unsere Köpfe und sahen zu der Doppeltür. Nur unsere Mutter vergrub das Gesicht weiterhin im Haar von Ljoschka.
Die Türen öffneten sich knarrend.
Papa war herbeigeeilt, um uns zu trösten. Er warf uns besorgte Blicke zu,
stürzte aber sofort zu Mama. Der Anblick seiner Gemahlin entsetzte ihn am meisten. Er rang um Fassung, versuchte dem Chaos aber einen Rest an Stärke und Normalität entgegenzustellen, genau wie ich. Er war schließlich der Zar, das Rückgrat Russlands, das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, der Armee, des Staates, der Romanows und unserer kleinen Familie.
„ Was kann ich tun?“
Er wusste, dass jede andere Frage in diesem Moment unpassend wäre. Vater war äußerst klug. Mama war mehr deutsch im Charakter und hatte seit der Begegnung mit Rasputin einen starken Hang zum Mystizismus. Manchmal war dies sogar besser. Ohne sie und ihren Glauben an Rasputin wäre mein kleiner Bruder längst tot. Gegen den Widerstand von Papa, seinen Beratern, den Ärzten und mir hatte sie Rasputins Wunderkräften vertraut und zu Ljoschka gehalten. Sie hatte damit Recht gehabt und dadurch dem Zarewitsch mehrfach das Leben gerettet. Es gibt zwar heute viele Zweifler, doch Rasputins Wunder wurden selbst von Wissenschaftlern bestätigt. Ich selbst sah sie mehrfach. Es gab keinen Mann wie ihn. Gott oder wer auch immer hatte ihm eine ganz besondere Fähigkeit geschenkt, leider auch ein abscheuliches Benehmen. Dieses stellte er jedoch bei Mama zurück. In ihrer Gegenwart war er ganz anders, deshalb hatte sie auch ein anderes Bild von ihm.
Ganz langsam erhob Mama ihren Kopf. Ganz langsam kehrte ihr Blick aus einer anderen Welt in diese zurück und färbte sich mit grenzenlosem Hass.
„ Töte diese Bestien!“
Papa versteinerte und auch wir waren entsetzt. War das unsere Mutter? Mama hatte nie den Tod eines Menschen gefordert. Sie war immer für die Abschaffung der Todesstrafe in Russland eingetreten und nun
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