Zauber der Schlange
aufgewühlt weiter, bis sie das Mauerstück erreichten, wo Garion am Vortag auf der Lauer gelegen hatte. Eine Zeitlang starrten sie hinaus in den Nebel, und das gespannte Schweigen zwischen ihnen wurde mit jedem Moment ungemütlicher.
»Wie ist es in Sendarien?« fragte Lelldorin plötzlich. »Ich bin noch nie dagewesen.«
»Es gibt nicht so viele Bäume«, antwortete Garion und sah über die Mauer auf die dunklen Stämme, die sich im Nebel abzeichneten. »Es ist ein ordentliches Land.«
»Wo hast du dort gelebt?«
»Auf Faldors Farm. In der Nähe des Erat-Sees.«
»Ist dieser Faldor ein Edelmann?«
»Faldor?« Garion lachte. »Nein, Faldor ist so gewöhnlich wie alte Schuhe. Er ist einfach nur ein Farmer – anständig, ehrlich und gutherzig. Ich vermisse ihn.«
»Ein Bürgerlicher also«, sagte Lelldorin, anscheinend bereit, Faldor als einen Mann abzutun, der nicht zählte.
»Stand bedeutet in Sendarien nicht sehr viel«, sagte Garion ziemlich scharf. »Was ein Mann tut, ist wichtiger als das, was er ist.« Er verzog das Gesicht. »Ich war Abwaschjunge. Nicht sehr spaßig, aber jemand muß es schließlich tun, finde ich.«
»Aber doch kein Leibeigener?« Lelldorin klang schockiert.
»In Sendarien gibt es keine Leibeigenen.«
»Keine Leibeigenen?« Der junge Arendier starrte ihn verständnislos an.
»Nein«, sagte Garion nachdrücklich. »Wir haben es nie für nötig erachtet, Leibeigene zu haben.«
Lelldorins Miene zeigte deutlich, daß er über diese Meinung erstaunt war. Garion erinnerte sich an die Stimmen, die er am Vortag aus dem Nebel gehört hatte, aber er widerstand dem Drang, etwas über Leibeigenschaft zu sagen. Lelldorin würde es nie verstehen, und sie waren gerade dabei, sich anzufreunden. Garion fühlte, daß er gerade jetzt einen Freund brauchte, und er wollte nichts dadurch verderben, daß er etwas sagte, was diesen liebenswerten jungen Mann beleidigen könnte.
»Was macht dein Vater?« fragte Lelldorin höflich.
»Er ist tot. Meine Mutter auch.« Wenn er es so schnell sagte, tat es weniger weh, fand Garion.
Lelldorin traten in plötzlichem, impulsivem Mitgefühl die Tränen in die Augen. Er legte tröstend seine Hand auf Garions Schulter. »Das tut mir leid«, sagte er mit erstickter Stimme. »Es muß ein schrecklicher Verlust gewesen sein.«
»Ich war noch ein Säugling.« Garion zuckte die Achseln und bemühte sich, gelassen zu klingen.
»Eine Seuche?« fragte Lelldorin leise.
»Nein«, antwortete Garion in demselben unbeteiligten Tonfall. »Ein Mann schlich des Nachts in ihr Dorf und steckte ihr Haus in Brand«, fuhr Garion teilnahmslos fort. »Mein Großvater hat ihn zu fangen versucht, aber er ist entkommen. Soweit ich weiß, ist dieser Mann ein sehr alter Feind meiner Familie.«
»Du läßt es aber doch sicher nicht auf sich beruhen?« fragte Lelldorin.
»Nein«, erwiderte Garion und starrte hinaus in den Nebel. »Wenn ich alt genug bin, werde ich ihn finden und töten.«
»Tapferer Kerl!« rief Lelldorin aus und umarmte Garion herzlich. »Wir werden ihn finden und in Stücke reißen.«
»Wir?«
»Ich gehe natürlich mit dir«, erklärte Lelldorin. »Kein wahrer Freund würde weniger tun.« Er sprach offensichtlich aus einem Impuls heraus, aber ebenso offensichtlich war es ihm völlig ernst. Er ergriff fest Garions Hand. »Ich schwöre dir, Garion, ich werde nicht eher ruhen, bis der Mörder deiner Eltern tot zu deinen Füßen liegt.«
Die plötzliche Erklärung war so vorhersehbar, daß sich Garion im stillen schalt, nicht den Mund gehalten zu haben. Seine Gefühle in dieser Angelegenheit waren sehr persönlich, und er war sich überhaupt nicht sicher, ob er bei der Suche nach dem gesichtslosen Feind Gesellschaft haben wollte. Ein anderer Teil seines Verstandes freute sich jedoch über Lelldorins bedingungslose Unterstützung. Er beschloß, das Thema fallenzulassen. Er kannte Lelldorin gut genug, um zu erkennen, daß der junge Mann zweifellos ein Dutzend solcher frommen Versprechungen machen würde, die in absoluter Aufrichtigkeit gegeben und ebenso rasch wieder vergessen waren.
Dann sprachen sie neben der zerfallenen Mauer dicht beieinanderstehend und fest in ihre dunklen Mäntel gehüllt von anderen Dingen.
Kurz vor Mittag hörte Garion das gedämpfte Geräusch von Huftritten draußen im Wald. Ein paar Minuten später erschien Hettar aus dem Nebel mit einem Dutzend kräftiger Pferde hinter sich. Der große Algarier trug ein kurzes, wollgefüttertes Ledercape.
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