Zauber der Versuchung: Roman (German Edition)
Blatt Briefpapier und hob ihren Füllfederhalter. »Also, ich schreibe meinem Anwalt und weise ihn an, dir Geld zukommen zu lassen.« Sie tunkte den Federhalter ins Tintenfass. »Ich sorge dafür, dass es genug ist für... sechs Monate?«
»Ein Jahr wäre besser.«
»Dann für ein Jahr.« Was nicht zwingend bedeutete, dass Alexandra ein Jahr fortbleiben würde. Sie kam wieder, sobald das Geld aufgebraucht war, und das würde wahrscheinlich lange vor Ablauf eines Jahres der Fall sein.
Judith schrieb eilig die Anweisung, deren Wortlaut sie mittlerweile auswendig kannte. Bei Gott, sie hatte schon sehr viele solche Briefe verfasst! Nachdem sie fertig war, sah sie zu ihrer Schwägerin auf. »Übrigens solltest du wohl lieber aufhören, Menschen, denen du gerade erst vorgestellt wurdest, zu sagen, dass du verrückt bist.«
»Du hast vollkommen recht.« Alexandra nickte ernst. »Ich sollte warten, bis ich sie besser kenne, ehe ich es ihnen sage.«
»Das habe ich nicht gemeint«, entgegnete Judith und seufzte erschöpft.
»Ich weiß, was du meintest, aber mir leuchtet es nicht ein. Vielmehr gefällt es mir, für verrückt gehalten zu werden. Es ist eine wunderbare Entschuldigung für schlechtes Benehmen.«
»Dennoch.« Judith blickte ihr in die Augen. »Eines Tages wird dich jemand wegsperren, und dann ist es an mir, zu deiner Rettung herbeizueilen.«
»Großartig! Du musst nämlich wissen, dass ich es liebe, dir das Leben schwer zu machen. Es ist meine größte Freude.«
Alexandra hasste sie, und wer wollte es ihr verübeln? Für Alexandra war Judith die Frau, die ihr die Liebe ihres Bruders, ihr Heim, ihr Vermögen und jedwede Unabhängigkeit gestohlen hatte, die sie je für sich hätte in Anspruch nehmen können. Wäre die Situation anders herum, würde Judith vielleicht Alexandra hassen.
»Irgendwann, Alexandra, möchtest du vielleicht in die feineren Kreise zurückkehren«, sagte Judith mit einer leichten Schärfe, die sie nicht vollständig zu unterdrücken vermochte. »Verrücktheit ist unter Umständen weniger günstig, als du denkst.«
»Ich dachte immer, Wahnsinn kommt in den besten Familien vor«, murmelte Alexandra. »Da füge ich mich gewiss gut ein.«
»Mach, was du willst«, erklärte Judith achselzuckend. »Ganz gleich, was ich sage oder wie klug dein Handeln ist, wirst du ja ohnehin tun, was du willst.«
»Mein Wille , Judith«, erklärte Alexandra, deren Augen im hereinfallenden Sonnenlicht funkelten, »ist das Einzige in meinem Leben, was mir noch geblieben ist.«
Judith sah sie eine Weile schweigend an. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob Alexandra in dem Ganzen nicht die tragischste Figur darstellte. Zwar hatte Judith ihren Ehemann verloren, aber die starke Persönlichkeit, zu der ihre Eltern sie erzogen hatten, wie auch die finanziellen Mittel, die sie ihr hinterließen, machten es ihr möglich, den Verlust zu überleben. Alexandra indes hatte die Zuneigung ihres Vaters, sollte sie sie denn jemals besessen haben, bereits Jahre vor dessen Tod verloren und dann auch noch ihren Bruder, ihren Zwilling, den einzigen Menschen auf der Welt, auf dessen Liebe sie wirklich zählen konnte. Er hatte sie am Ende auch im Stich gelassen.
»Es tut mir leid«, sagte Judith, auch wenn ihr klar war, wie wenig ihre Entschuldigung ausrichten konnte.
»Was tut dir leid?« Alexandra schüttelte den Kopf. »Selbst ich sehe durchaus, dass du kaum etwas an den Umständen ausrichten konntest, in denen ich mich befinde. Die Schuld liegt allein bei meinem Vater und meinem Bruder, mögen sie beide in Frieden ruhen. Mein Vater vielleicht nicht, aber andererseits würde ich vermuten, dass dort, wo er ist, kein Frieden möglich ist.« Sie stand auf und lächelte liebenswürdig. »Trotzdem bringe ich es einfach nicht übers Herz, etwas anderes als Hass für dich zu empfinden«, gestand sie und deutete auf den Brief, den Judith geschrieben hatte. »Soll ich ihn für dich überbringen?«
»Nein, aber danke für das Angebot.« Judiths Lächeln passte zu Alexandras: Es war genauso falsch. Sie erhob sich ebenfalls. »Falls ich dir erlaube, den Brief zu überbringen, wird er bei Ankunft zweifellos eine Anweisung über die doppelte Summe enthalten.«
Alexandra zog eine Grimasse. »Aber, aber, Schwester! Es ist gar nicht nett, so von mir zu denken.«
Judith sah sie fragend an.
»Scharfsinnig, aber nicht freundlich.«
»Wann planst du abzureisen?«
»Bald, denke ich. Nigel ist...« Ein merkwürdiger Ausdruck huschte
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