Zauber der Versuchung: Roman (German Edition)
auf. Er war sich ganz und gar nicht sicher, ob er sich dem stellen wollte, was Violet sich von ihrer Wiederbegegnung offensichtlich versprach. Für ihn war sie Vergangenheit, vorbei und erledigt. Trotzdem nagte es an ihm, dass er Judith gestern Abend nichts von Violets Anwesenheit gesagt hatte. Es schien so bedeutungslos. Sie verließen den Ball, und damit war jede Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen, dass Judith und Violet sich begegnen würden. Und später, nun ja, da war er mit weit vergnüglicheren Dingen beschäftigt gewesen, um über irgendetwas weniger Erfreulicheres nachzudenken. Er hatte sich fest vorgenommen, Judith von Violet zu erzählen, wahrscheinlich schon bei ihrem nächsten Wiedersehen, und dennoch fühlte er sich seltsam schuldig, weil er gestern nichts gesagt hatte. Das war natürlich albern. Schließlich verbarg er ja nichts.
»Guten Tag, Gideon.« Violet kam ins Zimmer geschwebt, als gehörte sie hierher. »Wer ist der Drachen, der mich fortschicken wollte? Mit Müh und Not konnte ich den Butler dazu bringen, meinen Hut und Umhang nicht fallen zu lassen, so böse und unverhohlen verächtlich sah sie mich an. Sie ist offensichtlich zu wohlerzogen, mir gegenüber offen auszusprechen, was sie gegen mich hat. Aber ich gestehe, ich wäre nicht überrascht gewesen, wären ihr Feuerschwaden aus der Nase gestoben, die mich rösten sollten.«
Er trat hinter seinem Schreibtisch hervor. »Der Drachen ist meine Tante. Versäumte sie, sich vorzustellen?«
»Offensichtlich hielt sie ein Vorstellen für überflüssig, obwohl ich nicht wusste, dass du eine Tante hast. Ganz zu schweigen davon, dass sie bei dir lebt.«
»Ich vermute, es gibt eine Menge Dinge, die du über mich nicht weißt.«
»Weniger als du denkst.« Sie lächelte ihm zu und hielt ihm die Hand hin. Er nahm sie, streifte sie sehr sacht und versuchte, sie loszulassen, nur hielt Violet seine Hand fest. Sie trat näher, skandalös nahe, und sah ihm in die Augen. »Wie geht es dir tatsächlich, Gideon?«
»Ich sagte dir bereits gestern Abend, es geht mir recht gut. Wirklich.« Er entwand ihr seine Hand unmissverständlich und trat einen Schritt zurück. »Warum bist du hier?«
»Du bist sehr ungezogen«, stellte sie kopfschüttelnd fest. »Ich hatte gehofft, wir könnten ein wenig plaudern. Mir war klar, dass du mich nicht rauswerfen würdest, denn dafür bist du viel zu wohlerzogen.«
»Darauf würde ich an deiner Stelle nicht wetten.« Er sah sie prüfend an. »Du bist also zum Plaudern gekommen?«
»Ich fand, es wäre höchste Zeit, dass du und ich reden, und mir scheint dies ein angemessener Ort dafür«, erklärte sie und blickte sich in der Bibliothek um. »Ich liebe Bibliotheken über alles. Sie strotzen geradezu vor Weisheit und Männlichkeit, und die hier mochte ich immer ganz besonders.«
Er lachte kurz. »Du warst noch nie in diesem Raum.«
»Dann liebe ich ihn eben von jetzt ab«, entgegnete sie mit einem strahlenden Lächeln, charmant und allzu vertraut.
Ein Klopfen ertönte von der Tür, und beinahe gleichzeitig erschien Wells mit einem Teetablett. So wenig Tante Louisa auch die Anwesenheit Violets behagte, fühlte sie sich dennoch verpflichtet, Erfrischungen anzubieten.
»Wunderbar.« Violet winkte Wells zu einem Beistelltisch. »Stellen Sie alles hier ab. Ich werde einschenken, also können Sie sich zurückziehen.«
»Wie Mylady wünschen.« Wells befolgte Violets Anweisungen, warf Gideon jedoch diskret einen fragenden Blick zu, den Gideon mit einem kaum merklichen Nicken beantwortete. Es war sinnlos, Violets Befehle zu verweigern, auch wenn sie gewiss nicht befugt war, in seinem Haus welche zu erteilen. Der Butler stellte das Tablett auf den Tisch und verließ dann leise den Raum. Zweifellos würde Wells in der Nähe bleiben, dachte Gideon, ebenso wie auch seine Tante nicht weit sein dürfte.
»Möchtest du einen Tee?«, fragte Violet, ging zum Tisch und nahm die Kanne auf.
»Nein, danke.« Er hockte sich seitlich auf die Ecke des Schreibtisches und verschränkte die Arme vor der Brust. »Aber bedien dich nur.«
»Ja, das werde ich.« Sie schenkte sich Tee ein, und Gideon stellte fest, dass sie die Rolle der Hausherrin sehr gut beherrschte. Offensichtlich war ihr Gesicht nicht das Einzige, was im Laufe der Jahre gereift war. Violet begab sich zu einem der zwei Stühle vor dem Schreibtisch und setzte sich elegant hin, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten. »Du brauchst mehr Sitzgelegenheiten hier drinnen, Gideon.
Weitere Kostenlose Bücher