Zauberschiffe 02 - Viviaces Erwachen
drehte Kennit langsam den Kopf und blickte hinunter zu der Stelle, an der einmal sein gesundes, starkes, muskulöses Bein gewesen war.
Die schmutzige Bandage hatte den Schreck sogar abgemildert.
Sein Bein in einem schmutzigen, blutbefleckten Bündel zu sehen, war schon schlimm genug. Aber längst nicht so schlimm, wie zu erkennen, dass es in einem krausen Stumpf aus zerkautem und totem Fleisch aufhörte. Vor allem das Ende sah aus, als wäre es zum Teil gekocht worden. Ihm wurde übel, und saure Galle brannte in seinem Rachen. Er schluckte sie hinunter. Auf keinen Fall wollte er sich vor ihnen eine Blöße geben. Sorcors Hand zitterte, als er ihm das Glas hinhielt. Lächerlich. Der Mann hatte schon schlimmere Verletzungen gesehen als die hier. Kennit nahm das Glas und stürzte den Brandy in einem Zug hinunter.
Dann holte er zitternd Luft. Nun, vielleicht hatte ihn das Glück doch nicht ganz verlassen. Wenigstens wusste die Hure, wie sie ihn verarzten musste.
Als wollte sie ihm auch diesen Trost entreißen, flüsterte Etta in dem Moment Sorcor zu: »Das ist eine ziemliche Schweinerei.
Wir müssen ihn zu einem Heiler bringen. Und zwar sofort!«
Er holte dreimal tief Luft und winkte Sorcor dann mit dem Glas zu. Doch als der Mann es füllen wollte, nahm ihm Kennit stattdessen die Flasche aus der Hand. Er trank einen Schluck und atmete dreimal tief ein. Noch einen Schluck. Drei Atemzüge.
Nein. Es wurde Zeit, es wurde jetzt allerhöchste Zeit.
Er wuchtete sich in eine sitzende Position. Dann musterte er das Ding auf seinem Bett, das einmal sein Bein gewesen war.
Anschließend band er die Spitzenschleife seines Nachthemds auf. »Wo ist mein Waschwasser?«, fragte er brüsk. »Ich habe nicht vor, hier in meinem eigenen Gestank zu sitzen. Etta. Hör damit auf, bis ich gewaschen bin. Und leg mir neue Kleidung hin und feines Leinen für mein Bett. Ich will ordentlich gewaschen und angezogen sein, bevor ich meinen Gefangenen verhöre.«
Sorcor warf Etta einen kurzen Seitenblick zu, bevor er antwortete. »Entschuldigt, Sir, aber ein blinder Mann wird nicht merken, wie Ihr angezogen seid.«
Kennit sah ihn ausdruckslos an. »Wer ist unser Gefangener?«
»Kapitän Reft von der Sicerna . Etta hat uns gezwungen, ihn wieder herauszufischen.«
»In dem Kampf hat man ihn nicht geblendet. Als er ins Wasser fiel, war er noch unversehrt.«
»Jawohl, Sir.«
Sorcor sah Etta an und schluckte. Aha. Das war also die Grundlage für das ehrerbietige Verhalten, das der Maat seiner Hure entgegenbrachte. Es hätte Kennit beinahe amüsiert.
Anscheinend war es eine Sache für ihn, einen Mann im Kampf zu zerstückeln und eine ganz andere, wenn die Hure ihn in Gefangenschaft folterte. Er hatte nicht gewusst, dass Sorcor so feine Unterschiede machte.
»Vielleicht weiß ein Blinder nicht, wie ich gekleidet bin, aber ich weiß es«, erwiderte Kennit nachdrücklich. »Führ die Befehle aus. Sofort.«
Noch während er das sagte, klopfte jemand an der Tür. Sorcor ließ Opal herein, der zwei Eimer mit dampfend heißem Wasser trug. Er stellte sie auf den Boden und wagte es nicht, Kennit auch nur anzusehen. »Mister Sorcor, Sir, diese Musikerleute wollen für unseren Kapitän Musik auf Deck machen. Sie sagten, ich sollte um, ehm, Eure ›Nachsicht‹ bitten und…«
Der Junge runzelte die Stirn, als er sich bemühte, sich an die fremdartigen Worte zu erinnern. »Sie wollen ihre äußerste Dankbarkeit ausdrücken… irgendwie so was.«
Kennit fühlte eine Bewegung an seinem Handgelenk und blickte hinunter auf das Amulett, das er in seiner Armbeuge verborgen hatte. Es schnitt Grimassen, die eindeutig Zustimmung und Begeisterung ausdrückten. Dieses verräterische kleine Ding schien zu glauben, dass er den Vorschlag ernst nehmen würde. Es schien ihm etwas sagen zu wollen.
»Sir?«, fragte Sorcor ehrerbietig.
Kennit tat, als kratze er sich am Kopf, und brachte so das Amulett in die Nähe seines Ohrs. »Ein König sollte seinen dankbaren Untertanen gegenüber gnädig sein. Ein Geschenk, das man grundlos ablehnt, kann das Herz eines Menschen verhärten.«
Kennit kam unvermittelt zu dem Schluss, dass dies ein guter Ratschlag war, ungeachtet der Quelle.
»Sag ihnen, es wäre mir ein Vergnügen.«
Kennit wandte sich direkt an Opal. »So hart mein Leben auch gewesen ist, ich bin kein Mann, der die Vergnügungen der feinen Künste missachtet.«
»Sar!«
Der Junge bemerkte in seiner Bewunderung seine Blasphemie gar nicht: Er hatte den Namen
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