Zauberschiffe 03 - Der Blinde Krieger
ihnen die Fesseln von Händen und Füßen gelöst hatte. Ihn hatten ihre Worte befreit. Er konnte seine selbst auferlegten Ziele endlich fahren lassen, konnte hochblicken, sich umsehen und deutlicher herausfinden, wo Sas Weg ihn hinführte.
»Hör auf, mich so anzustarren!« Ettas Worte klangen befehlend, aber es schwang auch ein unbehaglicher Unterton darin mit. Wintrow senkte sofort den Blick.
»Ich habe nicht… ich meine, ich wollte Euch nicht anstarren. Eure Worte haben nur einfach Gedanken in mir geweckt… Etta. Wo hat man Euch diese Dinge gelehrt?«
»Welche Dinge?« Jetzt klang ihre Stimme nur noch misstrau-isch.
»Solche Dinge, wie das Leben zu akzeptieren und das Beste daraus zu machen…« Wenn man es laut aussprach, schien das ein so einfaches Konzept zu sein. Vor wenigen Augenblicken noch hatten diese Worte für ihn wie gewaltige Glocken die Wahrheit verkündet. Es war richtig, was sie besagten: Erleuchtung war nichts weiter, als die Wahrheit im richtigen Moment zu begreifen.
»In einem Bordell.«
Selbst diese Enthüllung erhellte seinen Verstand. »Dann ist Sa wirklich auch dort, in all seiner Weisheit und Güte.«
Sie lächelte, ein Lächeln, das beinahe auch ihre Augen erwärmt hätte. »Angesichts der Vielzahl der Männer, die seinen Namen grunzen, wenn es ihnen kommt, muss Sa mit absoluter Sicherheit da sein.«
Wintrow wandte den Blick ab. Das Bild war beunruhigend lebhaft. »Es muss hart gewesen sein, so seinen Lebensunterhalt zu verdienen«, entfuhr es ihm.
»Findest du?« Sie lachte laut und freudlos. »Es überrascht mich, das von dir zu hören. Aber du bist ja auch noch ein Junge. Die meisten Männer sagen uns, dass sie auch gern ihr Brot damit verdienen würden, den ganzen Tag auf dem Rücken zu liegen. Sie glauben, wir haben es leicht, weil wir den ganzen Tag mit ›Vergnügen‹ handeln.«
Wintrow dachte darüber nach. »Ich halte es für sehr hart, so intim mit einem Mann sein zu müssen, für den man keine echten Gefühle empfindet.
Einen Moment verdunkelte sich ihr Blick, und sie wirkte nachdenklich. »Nach einer Weile verschwinden alle Gefühle.« Ihre Stimme klang fast mädchenhaft. »Und das ist eine Erleichterung. Alles wird dann so viel einfacher. Dann ist es nicht schlimmer als jede andere schmutzige Arbeit. Es sei denn, man erwischt einen Kerl, der einen verletzt. Aber man kann sich auch woanders verletzen. Bauern können von ihren Ochsen aufgespießt werden, Plantagenarbeiter fallen von den Bäumen, Fischer verlieren ihre Finger oder ertrinken…«
Sie verstummte und widmete sich wieder ihrer Näherei. Wintrow schwieg ebenfalls. Nach einer Weile lächelte sie zögernd. »Kennit hat mir meine Gefühle zurückgegeben. Dafür habe ich ihn gehasst. Das war das Erste, was er mich lehrte: hassen. Ich wusste, dass es gefährlich war. Für eine Hure ist es sehr gefährlich, überhaupt Gefühle zu haben. Und weil ich wusste, dass er mich dazu brachte, wieder zu empfinden, habe ich ihn nur um so mehr gehasst.«
Warum? dachte Wintrow, aber er sprach es nicht laut aus. Es war auch nicht nötig.
»Er ist eines Tages in das Bordell gekommen und hat sich umgesehen.« Sie sprach langsam, wie in ihren Erinnerungen versunken. »Er war sehr gut gekleidet und auch sehr sauber. Er trug eine dunkelgrüne Brokatjacke mit elfenbeinernen Knöpfen, und das Hemd hatte auf der Brust und an den Manschetten Rüschen. Er war noch nie zuvor in Bettels Bordell gekommen, aber ich wusste, wer er war. Selbst damals kannte schon ganz Divvytown Kennit. Er kam nicht wie die anderen Männer ins Bordell, mit seinen Freunden oder sogar mit seiner ganzen Mannschaft. Und er war auch nicht betrunken oder hat herumgeprahlt. Er kam allein, nüchtern und zielstrebig. Er sah uns an, er hat uns richtig betrachtet, und dann hat er mich ausgesucht. ›Sie wird genügen‹, hat er Bettel gesagt. Dann hat er den Raum gemietet, den er wollte, und ein Essen bestellt. Er hat Bettel sofort bezahlt, vor allen anderen. Dann trat er auf mich zu, als wären wir bereits allein, und beugte sich zu mir herüber. Ich dachte, er wollte mich küssen. Manche Männer taten das. Stattdessen hat er geschnüffelt und mir befohlen, mich zu baden. Du glaubst vielleicht, dass man eine Hure nicht demütigen kann, aber man kann. Trotzdem bin ich nach oben gegangen und habe getan, was er befohlen hat, aber nicht mehr. Ich war wütend und so kalt wie Eis zu ihm. Eigentlich erwartete ich, dass er mich schlagen, zurückschicken oder sich
Weitere Kostenlose Bücher