Zauberschiffe 06 - Herrscher der drei Reiche
würde tief schlafen, und er hatte Zeit genug, über seine Rolle nachzudenken und darüber, wie er auf ihre Fragen reagieren sollte.
Paragon war mitsamt der ganzen Mannschaft gesunken. Zu schade. Die Seeschlangen hatten auf Brashens Pfeile reagiert und das Schiff angegriffen. Hm, diese Geschichte konnte funktionieren, so lange Althea mit niemandem von der Mannschaft sprach. Konnte er sie so lange isolieren, ohne ihren Verdacht zu erregen? Es würde sehr schwierig werden, die richtigen Lügen zu ersinnen, aber ihm würde schon etwas einfallen.
Er blieb lange stehen und betrachtete sie. Sie war Wintrow in einer weiblichen Ausgabe. Mit dem Zeigefinger fuhr er die Kurve ihrer Wange nach, den Bogen ihrer Brauen, ihre Nasenflügel. Bingtown-Händler-Blut, edles Blut und gut aufgezogen. Er erkannte seinesgleichen sofort wieder. Als er sich vorbeugte und sie küsste, waren ihre schlaffen Lippen warm. Ihr passiver Mund lockte ihn mit dem Geschmack von Gewürzen und Branntwein. Er könnte sie jetzt sofort nehmen, wenn er wollte. Niemand würde es jemals erfahren. Vielleicht würde sie selbst nicht einmal erfahren, dass er es getan hatte.
Diese amüsante Vorstellung entlockte ihm ein aufrichtiges Lächeln. Er begann, die obersten Knöpfe ihres Nachthemdes aufzuknöpfen. Es ist mein eigenes Nachthemd, dachte er. Also ist es, als würde ich mich selbst ausziehen. Sie atmete tief und gleichmäßig.
»Du willst sie nur, weil sie dem Jungen gleicht«, höhnte das Amulett schneidend. Die dünne, piepsige Stimme durchbrach den Frieden in dem kleinen Raum.
Kennit erstarrte und sah auf das abscheuliche kleine Ding hinunter. Seine kleinen Äuglein glitzerten, während es zu ihm hochblickte. Funkelten sie wirklich in diesem geschnitzten Hexenholz, oder bildete er sich das nur ein? Der eingeätzte Mund verzog sich geringschätzig.
»Und den Jungen willst du nur, weil er dich an dich selbst erinnert, als du in seinem Alter warst. Nur warst du in Wirklichkeit viel jünger, als Igrot dich in sein Bett gezerrt hat.«
»Halt den Mund!«, zischte Kennit. Diese Erinnerungen waren verboten. Sie waren alle mit dem Paragon auf den Meeresgrund gesunken. Warum sonst hätte er das alles getan, wenn nicht aus dem Grund, all diese Erinnerungen zu vernichten? Dass dieses Amulett solche Worte aussprach, gefährdete alles. Alles. Jetzt wusste er, dass er dieses verdammte Ding zerstören musste.
»Das wird dir nicht helfen«, verhöhnte es ihn. »Zerstöre mich, und Blitz erfährt sofort, aus welchem Grund. Und ich warne dich: Nimm diese Frau gegen ihren Willen, und das ganze Schiff wird wissen, warum du sie wolltest. Dafür werde ich sorgen. Genauso wie ich dafür sorgen werde, dass Wintrow der Erste ist, der es erfährt.«
»Warum? Was willst du von mir?« Kennits Frage war ein wütendes Flüstern.
»Ich will, dass Etta wieder auf dieses Schiff zurückkommt. Und auch Wintrow. Die Gründe sind meine Sache. Ich warne dich erneut: Blitz und ich finden Vergewaltigung äußerst verabscheuungswürdig. So etwas gibt es unter Drachen nicht.«
»Sieh sich einer dieses Stückchen Holz an, kaum größer als eine Walnuss. Und das will ein Drache sein!«
»Man braucht nicht die Größe eines Drachen, um die Seele eines Drachen zu haben. Nimm deine Hände von ihr!«
Kennit gehorchte zögernd. »Ich habe keine Angst vor dir«, behauptete er, während er sich aufrichtete und auf seine Krücke stützte. »Und was Althea angeht: Ich werde sie bekommen. Sie wird sich mir freiwillig hingeben. Du wirst schon sehen.« Er stieß langsam den Atem aus. »Schiff, Frau und Junge. Alle werden mir gehören.«
Woher weiß sie das?, dachte Paragon trübsinnig. Woher wusste Amber, wohin genau sie ihre Hände legen musste, um Kontakt zu seinem ganzen dreigeteilten Selbst aufzunehmen? Ihre nackten Finger pressten sich gegen sein Holz, und jetzt war sie auch offen für ihn. Wenn er gewollt hätte, hätte er in sie eintauchen und ihr alle Geheimnisse entreißen können. Aber er wollte gar nicht mehr von ihr wissen, als er schon wusste. Er wollte nur noch, dass sie aufgab und friedlich starb. Warum konnte sie das nicht für ihn tun? Er war doch immer ein Freund für sie gewesen. Aber jetzt ignorierte sie ihn, griff an ihm vorbei und sprach mit den anderen, die dieses Hexenholz mit ihm teilten. Nein, sie sprach zu ihm, aber die anderen lauschten, und ihr Lauschen schien in ihm widerzuhallen, vibrierte in seiner Seele.
»Ich muss leben«, bettelte sie. »Nur du kannst mir
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