ZECKENALARM IM KARPFENLAND
Mensch ihm im Wege stand, für das was er vorhatte. Was noch vor ihm lag. Er kannte Kunos Vergangenheit. Nicht nur von dessen Erzählungen. Deswegen hatte er ihn ja ausgesucht. Ein idealer Testfall für seine kleinen Killer. Ein nützlicher dazu. Wer macht sich schon Gedanken um den Tod eines Obdachlosen? Ihm fiel sein kleines Liedchen wieder ein. Es gefiel ihm sehr, und er begann erneut leise vor sich hin zu singen, bis er siebzehn Minuten später den Ford Focus in seine Garage fuhr:
à
Hört zu, ihr kleinen Zecken,
Den Rotweinbruder sollt ihr stechen.
Auch Schmarotzer ich nicht leiden kann,
Drum kommt der Typ als nächster dran.
Der Alte kommt dann ganz zum Schluss,
Auf jeden Fall auch sterben muss.
Die Süchtige sowieso verdirbt,
An Lungenkrebs von selber stirbt.
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Till Stemmann schlummerte dem Montagmorgen entgegen. Spanien war mit einem 4:0-Sieg über Italien zum zweiten Mal hintereinander Fußballeuropameister geworden. Kuno Seitz schnarchte unter der Brücke des Europakanals, und der Regen prasselte immer noch ohne Unterlass schwer hernieder. Donner und Blitze hatten sich zwischenzeitlich allerdings weiter nach Osten verzogen. Die mittelfränkische Welt schlief noch. Zwei winzige Kreaturen ruhten allerdings nicht, sie waren sehr aktiv in dieser regenreichen, schwülen Nacht. Mit ihren acht rot-gelb geringelten Beinen hatten sie sich zwischenzeitlich fest in die Haut ihres Opfers verkrallt. Unmittelbar nach ihrer Freilassung hatten sie sich auf die Suche nach einem geeigneten Futterplatz begeben. Mit Geduld und Ausdauer suchten sie nach einer dünnhäutigen, feuchten und gut durchbluteten Stelle. Einer von Till Stemmanns Lieblingen saß gut getarnt im Schamhaarbereich des schnarchenden Obdachlosen. Nachdem die Zecke in das offene Hosentürchen geschubst wurde, begab sie sich sofort auf Nahrungssuche. Ihr Weg, der sie in die Unterhose ihres Opfers führte, war kurz und ohne Hindernisse. Als sie sich für einen endgültigen Platz entschieden hatte, riss sie mit ihren scherenartigen Mundwerkzeugen die Haut auf und sonderte mit ihrem Speichel zeitgleich ein Sekret ab, welches die Einstichstelle sofort betäubte. Bald nachdem das Insekt mit seiner Blutmahlzeit begonnen hatte, lösten sich auch die ersten Nairoviren aus dem Darm der Zecke und machten sich über deren Speicheldrüse auf den Weg in die Blutbahnen des schlafenden Kuno Seitz. Mit ihrem Stechrüssel hatte die Zecke eine winzige Grube in das Gewebe gestochen, welche sofort mit Blut voll lief. Endlich! Sie begann zu saugen, und sie hatte vorgesorgt, dass sie richtig satt werden würde. Ihr Speichel enthielt Stoffe, welche verhinderten, dass das Blut ihres Opfers gerann und die Einstichstelle sich entzündete. Nach zwanzig Minuten hatte sie bereits genug Zement, eine Art Klebstoff produziert, der sie fest mit der Haut des Schlafenden verband. Ununterbrochen saugte sie in der winzigen, blutunterlaufenen Gewebegrube. Ihr Hinterleib schwoll an und wurde im größer. Eifrig filterte sie die festen Bestandteile des Blutes heraus, welche sie zum Überleben so dringend benötigte. Überschüssige Flüssigkeit gab sie über ihren Stechapparat an das Opfer zurück. Mit ihr strömten weitere Nairoviren in die Blutbahnen von Kuno Seitz.
Fünf Minuten später als die erste Zecke begann auch die zweite mit dem Blutsaugen. Beide würden nicht aufhören, bis sie sich richtig vollgesogen hatten.
Der Obdachlose merkte von alledem nichts. Er schlief seinen Rausch aus. Es hatte genug geregnet. Auch die dicken Wolken verzogen sich in Richtung Osten. Die Nacht war lau und dämpfig. Drückend schwül. Zwei Stunden später kündigte sich aus dem Dunst der dahin schwindenden Regenwolken das erste, fahle Tageslicht an. Das Gewitter hatte keine wirkliche Abkühlung gebracht. Über den Wipfeln der hohen, schlanken Lärchen stiegen Wasserdämpfe in den montäglichen Morgenhimmel.
Röttenbach, Kirchgasse, Montag 2. Juli 2012, Tag der Franken
„Godd sei Dang hamm die Schbanier gesdern dees Endschbiel gwunna!“, jubilierte Kunni Holzmann, als sie sich ihren Morgenkaffee aufbrühte. „Vier Schdügg hamsna nei ghaud, den Schbagheddis. Gschiehd na gscheid recht! Und wie bleed hadder gschaud der Balodelli.“
Dann schenkte sie sich dampfenden Kaffee in ihre Tasse ein, und schlug den Lokalteil der Zeitung auf. „Tag der Franken“ stand in dicken Lettern ganz oben auf Seite siebzehn. „Heute, am 2. Juli 2012, feiern wir den diesjährigen Ehrentag der Franken“, las sie.
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