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Zehn (German Edition)

Zehn (German Edition)

Titel: Zehn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franka Potente
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wusste, dass er träumte, und hoffte, er würde lange nicht aufwachen. Der Anblick des riesigen Samurai machte ihn unfassbar glücklich. Bald, schon bald würde er mit Andre seine letzte große Reise antreten.  
    Andre sah ihn bekümmert an und seufzte. Es war, als rauschten die Blätter im Ginkgobaum, und Herr Masamori meinte den Seufzer des Riesen in seiner eigenen Brust zu spüren. Andre legte den riesigen Schädel schräg, als wolle er etwas sagen. Herr Masamori verstand, er flüsterte: »Heute, Andre, heute gehen wir zu Dr. Chi!« Er war sich nicht sicher, ob er das gedacht oder gesagt hatte.  
    Alles hatte eine Woche zuvor begonnen.  
    Es war August und sehr heiß. Herr Masamori hatte viel verkauft, da die Menschen in der Hitze gerne durch die schattigen Gassen seines Viertels gingen. Und für feste Schuhe war es sowieso zu warm. An Tagen wie diesen saß er manchmal auf der kleinen Bank vor seinem Laden. Wenn die Sonne wanderte, ging er hinein und schaltete den kleinen Ventilator ein, den seine Frau am 8. August vor drei Jahren gekauft hatte. Am Abend desselben Tages hatte sie plötzlich ohnmächtig in der Küche gelegen. Er hatte sie gefunden und hilflos den Sohn angerufen.  
    Jedes Mal, wenn er den Ventilator einschaltete, dachte er daran, wie er im Krankenhaus ihre blasse Hand gehalten hatte. Es war dann alles sehr schnell gegangen. Und plötzlich war er allein gewesen mit der Katze.  
    Herr Masamori gab die Wohnung nebenan auf und lebte nun in seinem Laden. Das Hinterzimmer funktionierte er zu einem kleinen Schlafzimmer mit Kochecke um.  
    Eigentlich gab es seit dem Tod seiner Frau nur drei Dinge, die sein Leben bestimmten: der Schlaf, der Laden und die Katze.  
    Er schlief sehr viel. Vielleicht waren auch seine nachmittäglichen Nickerchen der Grund dafür, warum er nachts schlecht schlief. Oft nickte er im Laden ein oder draußen auf der Bank. Die bleierne Müdigkeit war vor einigen Monaten gekommen und hatte ihn seitdem nicht mehr verlassen.  
    Nicht selten verbrachte er die erste Hälfte des Tages damit, seinen Träumen nachzuhängen, und wenn es ruhig war im Laden, vergingen Stunden, und der Traum der letzten Nacht wurde zum Tagtraum.  
    Dann, vor etwa einer Woche, hatte plötzlich der Apparat auf der Ladentheke gestanden. Sperrig und kühl. Herr Masamori hatte ihn eine Weile angestarrt. Es schien, als brächte das Objekt die Ordnung und Ruhe des kleinen Raumes durcheinander. Er fühlte sich gestört von der Kiste, aber es war ein Geschenk, er musste es annehmen. Ratlos schüttelte er den Kopf. Was sollte er mit einem Fernseher?  
    Herr Masamori drehte an den Knöpfen des kleinen Apparates herum. Nur Schnee und Rauschen. Eigentlich schaute er nie fern. Aber der Fernseher stand nun schon seit zwei Tagen auf der Ladentheke.  
    Herr Ogawa hatte den Fernseher gebracht.  
    Er hatte ihn mit einer kleinen Verbeugung auf der Ladentheke vor dem erstaunten Herrn Masamori abgestellt. »Ich brauche ihn nicht mehr. Meine Frau hat einen neuen Flachbildfernseher gekauft.« Er lächelte. »Und du hast doch oft stundenlang keine Kunden, da kannst du ein bisschen gucken!«  
    Herr Ogawa strahlte. Er war stolz auf sein Geschenk. Seine Ohren waren gerötet.  
    So hatte er schon als Kind dagestanden, wenn er stolz war. Sie kannten sich fast vierzig Jahre. Herr Masamori war jetzt siebzig. Herr Ogawas Vater war mit ihm zusammen zur Schule gegangen, und bis zu dessen Tod hatten die beiden Herren oft gemeinsam Patchinko gespielt. Herr Ogawa war fast so etwas wie ein Sohn für Herrn Masamori.  
    Herr Masamori hatte auch einen eigenen Sohn, Akira. Akira bedeutet »intelligent«.  
    Akira war ein schwieriges Kind gewesen. Obwohl Herr Masamori und auch seine Frau immer gerne und viel gelesen hatten, konnten sie Akira nie für Bücher begeistern. Er hatte sich selten für etwas näher interessiert, bekam als Schüler schlechte Noten, war aufmüpfig und faul gewesen. Die Arbeit seines Vaters, der Laden, interessierte ihn bis heute nicht.  
    Automechaniker hatte er werden wollen. Irgendwann in der Ausbildung hatte er Tamiko geheiratet. Die verdiente gut in ihrem Job, und plötzlich interessierte Akira sich auch nicht mehr für Autos.  
    Er meldete sich selten bei Herrn Masamori, seit sie nach Tokorozawa gezogen waren. Manchmal kam er mit Tamiko in die Stadt zum Einkaufen, dann brauchten sie einen Babysitter für den Enkel. Der letzte Besuch war nun schon einige Wochen her. Der alte Mann war jedes Mal erschrocken,

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