Zehntausend Augen
als verantwortlichen Verwalter eines geheimen Sprengstofflagers der NVA. Davon hatte Hajo nichts gewusst. Deshalb war sein Vater immer so schweigsam gewesen. Bei einer Tätigkeit für die Volksarmee war das nicht ganz unverständlich.
Neugierig hatte Hajo die ersten Kisten geöffnet. Sie enthielten Sprengstoff, hauptsächlich TNT in unterschiedlichsten Packungsgrößen und ein wenig PLNP. Vielleicht hatte sein Vater die Kisten nach der Wende vor dem Westen in Sicherheit bringen wollen. Das hätte zu ihm gepasst. Hajos erster Gedanke war gewesen: Bloß weg hier! Aber je länger er nachdachte, desto fester wurde die Überzeugung: Die Sachen waren vom Schicksal für ihn bestimmt. Er musste nur noch herausfinden, wofür.
Die Entdeckung war etliche Monate her. Hajo hatte die Zeit intensiv genutzt und sich mit dem Sprengstoff vertraut gemacht. Im Netz gab es Anleitungen für alles – wenn man nur an den richtigen Stellen suchte.
Heute holt Hajo keinen Sprengstoff. Er hat noch andere Sachen im Keller eingelagert. Er wählt ein kleines Röhrchen mit Säure und geht hinauf in den Raum, der früher einmal das Schlafzimmer seiner Eltern war. Die Wände sind mit Plastikfolie beklebt. Mehrere große Kästen aus Plexiglas stehen im Raum, die an riesige Aquarien erinnern, aber es sind weder Fische noch Wasser darin. In regelmäßigen Abständen befinden sich Löcher in den Kästen, in denen Gummihandschuhe luftdicht so verklebt sind, dass man in den Kästen arbeiten kann, wenn man in die Handschuhe schlüpft.
Würde ihn jemand fragen, ob das nicht zu kompliziert und viel zu viel Aufwand sei, würde Hajo antworten: »Um nicht lebenslang ins Gefängnis zu kommen, ist kein Aufwand zu hoch.«
Aber es gab niemanden, der diese Frage stellte. Seit das elterliche Schlafzimmer zur Werkstatt geworden war, hatte kein anderer Mensch diesen Raum betreten.
Als Erstes schaltet Hajo einen Staubsauger ein, den er zweckentfremdet hat. Staub saugen wäre auch unnötig, denn der Raum ist so rein wie wenige Räume in Berlin. Der Staubsauger saugt von außen Luft an, die er in die Kästen pumpt. Die Kästen sind luftdicht versiegelt. Der Staubsauger sorgt für einen geringen Überdruck, für den Fall, dass aus unerfindlichen Gründen doch irgendwo eine undichte Stelle ist. Selbst in diesem unwahrscheinlichen Fall würde nicht ein winziger Hauch von Hajos Atemluft in einen der Kästen geraten und verräterische Spuren hinterlassen.
Die meiste Luft des Staubsaugers verbraucht die Schleuse. Durch diesen gesonderten Kasten muss alles Material und das Werkzeug, das Hajo für seine Pläne benötigt. Nur originalverpackte Ware darf in die Schleuse und von da aus in den nächsten Kasten zur Verarbeitung. Gestern hat er dort zwei Prepaid-Handys mit größter Vorsicht aus ihren Verpackungen befreit und durch die Verbindungsschleuse in den eigentlichen Arbeitskasten weitergereicht. Über Nacht hat er die Akkus aufgeladen, die jetzt mit den Handys auf ihren speziellen Einsatz warten.
In einem letzten Arbeitsschritt schweißt Hajo die Handys in eine luftdichte Folie ein, damit sie erst am Zielort mit der dortigen Luft in Berührung kommen.
Das Ganze ist ein beträchtlicher Aufwand, aber in dieser Beziehung ist Hajo Perfektionist. Er empfindet den Aufwand nicht als Arbeit. Mit größtem Vergnügen stellt er sich vor, mit welchen Mühen man in den Laboren der Polizei auf Spurensuche geht. Er malt sich aus, wie sie dort mit wachsender Verzweiflung sogar im Nanobereich nach Spuren suchen – und immer noch leer ausgehen. Die Experten der KTU waren es gewohnt, immer etwas zu finden, aber nicht bei ihm. Wo er arbeitet, wird man nachher kein einziges Atom von ihm aufspüren. Jedenfalls nicht, wenn er es nicht will.
Heute will Hajo Spuren hinterlassen. Ganz spezielle Spuren. Sie bilden die Grundlage für das Abenteuer von morgen. Man muss immer gründlich vorausplanen, wenn man ein komplexes Szenario beherrschen will.
Um diese Spur zu legen, fischt Hajo mit einer Pinzette ein Stück durchsichtiger Folie aus einem Behälter. Die Folie war nicht größer als eine Briefmarke, aber sie stellt für ihn eine kleine Kostbarkeit dar, die er mit viel Aufwand erbeutet und präpariert hat. Unter einer speziellen Lampe betrachtet er das feine Linienmuster auf der Folie. Es ist perfekt. Nun berührt er mit der Folie ganz kurz die Seite des einen Handyakkus und den Rand einer Taste des anderen Handys. Das muss reichen. Er will es der KTU nicht zu einfach machen. Sollen sie
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