Zehntausend Augen
Violine. Und jede Viertelstunde drehte jemand an dem Rädchen und spannte die Saiten stärker.
Gegen neunzehn Uhr bestellte Ellen Pizza für alle. Für sich selbst ließ sie eine Pizza Diavolo kommen, extra scharf und mit doppelt Peperoni. Sie drohte dem Pizzadienst, nie wieder bei ihm zu bestellen, wenn die Pizza zu lasch wäre. Der Pizzadienst wollte Ellen offensichtlich als Kundin nicht verlieren. Bereits beim zweiten Stück fühlten sich ihr Mund und Hals an, als ob sie glühende Kohlen gegessen hätte. Ellen hielt durch bis zur letzten Peperoni.
Sie blickte auf die Uhr. Die Zeiger hatten sich um keine zwanzig Minuten weiterbewegt.
21:58 Uhr. Ellen blieb immer wieder vor dem Stadtplan stehen und betrachtete das in vier Sektoren zerteilte Berlin. Aber all ihre Vorbereitungen führten zu nichts, wenn der Erpresser sich nicht meldete. Die Anrufe der Kollegen draußen in der Stadt nahm sie schon nicht mehr entgegen.
Vom Gang her drangen die aufgeregten Stimmen von Stefan und Marina Wirtz herein. Stefan erklärte lautstark, dass der Psychologische Dienst die überflüssigste Abteilung im LKA wäre. Marina Wirtz antwortete auch nicht mehr so ruhig wie sonst.
Bei der allgemeinen Unruhe, die die Zentrale erfüllte, und dem Streit im Gang hätte Ellen fast das Eingangssignal von Skype überhört.
»Ruhe!«, brüllte sie. »Verdammt noch mal, Ruhe!«
Ellen hieb auf die Eingabetaste, um den Kontakt zu bestätigen, zog ihre Bluse aus und warf sie auf einen Stuhl. »Kriminalhauptkommissarin Ellen Faber hier.«
»Guten Abend.« Die Stimme klang freundlich und gelassen, wie nach einem gemütlichen Kaffeeplausch. »Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Tag, sodass wir unsere Verabredung jetzt beginnen können.«
Ellen kämpfte um ihre Beherrschung. Hätte ihr tatsächlich jemand für eine Verabredung gegenübergestanden, hätte er befürchten müssen, sich eine Ohrfeige einzuhandeln.
»Oh, ich sehe, Sie haben sich neu eingekleidet. Sehr reizvoll, Ihr BH. Er wird sich auf den Titelseiten der Zeitungen hervorragend machen.«
Jetzt hätte das Gegenüber garantiert eine Ohrfeige kassiert.
Ellen holte tief Luft – und bemerkte erst jetzt, dass der Erpresser eine weibliche Stimme gewählt hatte. Was sollte das? Klar, man konnte bei einer Software-Stimme mit einem Mausklick zwischen männlich und weiblich wechseln. Aber Ellen konnte nicht so einfach umschalten. Sie hatte sich anhand der Stimme ein Bild des Erpressers gemacht, und dieses Bild war eindeutig männlich.
»Warum so spät?«, platzte sie heraus. »Sie hatten Nachmittag gesagt.«
»So kleinlich? Das passt gar nicht zu Ihnen.«
»Warum?«, beharrte Ellen.
»Ach, der Abend bietet einfach mehr Herausforderungen«, sagte die Stimme unbeirrt freundlich.
Bevor Ellen über die Bedeutung nachdenken konnte, platzten Stefan und Marina Wirtz in die Zentrale. Sie hatten gerade erst mitbekommen, dass der Erpresser in der Leitung war. Ellen sah ärgerlich zu ihnen hinüber. Hoffentlich störten die beiden jetzt nicht mehr. Ihr Handy piepte. Sie sah kurz auf das Display. Eine Nachricht von Becker von Intelko. Als ob das jetzt wichtig wäre.
»Gute Nachrichten?«, fragte die Stimme.
Ellen hatte vollkommen vergessen, wie sehr sie unter dauernder Beobachtung stand. Ihr wurde heiß. Jede ihrer Bewegungen wurde registriert, vom Erpresser und von Hunderttausenden von Internetnutzern in der ganzen Welt.
»Und?«, fragte die Stimme noch einmal.
»Wie man's nimmt«, antwortete Ellen.
»Erzählen Sie, wir sind doch unter uns.« Ein koboldhaftes Lachen folgte.
Ellen wurde heiß im Gesicht. Das lief nicht so, wie sie sich das vorgestellt hatte. Aber egal, sie musste mit ihm reden.
Ellen nahm das Handy und öffnete die SMS. Es war weniger die Nachricht, die sie interessierte, als mehr die Chance, in den wenigen Sekunden wieder zu sich selbst und ihrem Plan zu finden.
»Sprunghafter Anstieg der Nutzerzahlen, aber die Leitungen sind stabil«, las sie vor.
»Das klingt doch vielversprechend«, sagte die Stimme. »Sie haben gute Arbeit geleistet.«
Dieses Stichwort lieferte Ellen das gesuchte »Wir haben uns sehr darum bemüht, dass die Kommunikation mit Ihnen gelingt.«
»Das habe ich erwartet.«
»Ich hoffe, Sie erkennen darin unseren guten Willen.«
»Durchaus.«
Die kurzen Antworten erschwerten die Kommunikation, weil jegliche Initiative bei Ellen lag. Sie schob eine Strähne ihres Haars hinter ein Ohr, das vereinbarte Zeichen für Khalid, die geplante Störung zu
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