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Zehntausend Augen

Zehntausend Augen

Titel: Zehntausend Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Seibel
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Stadt.
    »Die Bereitschaftspolizei soll zu den Kinos in ihrer Nähe fahren und die Leute beruhigen«, ordnete Ellen an. Mehr war nicht drin, aber das musste sein, damit es keine Verletzten gab. Die Zahl auf dem Monitor näherte sich der Vierhundert.
    »Es geht überhaupt nicht um die Oper und die Kinos«, sagte sie leise.
    Aus den Lautsprechern kam Applaus. »Ah, Sie haben verstanden. Dummerweise hat das fast zweihundert Sekunden gekostet. Jetzt wird es knapp.«
    »Hören Sie mit Ihren verdammten Tricks auf. Was wollen Sie?«
    »Warum sind Sie so aufgeregt?«, fragte die freundliche Stimme der Vorlese-Software. »Und warum nehmen Sie mir meine Tricks übel? Ich beschwere mich ja auch nicht über Ihren kleinen Trick mit der Kommunikationsstörung.«
    Ellen wurde glühend heiß. Der Erpresser weiß alles! Er hat uns nur etwas vorgespielt. Das bedeutet … Stefan, das sek – sie laufen in eine Falle!
    »Rufen Sie Daudert zurück!«, brüllte sie die Leute in der Zentrale an. »Schnell. Schnell. Er läuft in eine Falle.«
    »Ups, zu spät«, sagte die Stimme in ihrer unerträglichen Freundlichkeit. »Ihr Kollege war sehr schnell. Und er ist äußerst entschlossen. Hören Sie selbst.«
    Aus den Lautsprechern drang das Getrappel schwerer Stiefel. Jemand brüllte: »Zugriff!« Dann gab es einen Knall. Etwas zischte. Schüsse fielen.
    In der Zentrale fror jegliche Bewegung ein. Brahes Augen weiteten sich. Ellen spürte, wie das Blut aus ihrem Gesicht verschwand.
    Die Geräusche aus den Lautsprechern verstummten abrupt. Abgeschaltet. Nach dem vorangegangenen Lärm tat die Stille direkt weh. Dafür breiteten sich die Gedanken aus. Was hatte das Zischen zu bedeuten? Auf wen wurde geschossen? Was war mit Stefan und dem Team?
    »Ich verstehe Ihre Betroffenheit«, platzte die Stimme in die Totenstille der Zentrale. »Aber Sie hätten nicht versuchen sollen, mich zu hintergehen. Das zahlt sich nicht aus. Weil Sie es nicht wissen können, verrate ich es Ihnen: Ich habe diesen Raum ›Kammer des Schreckens‹ getauft.«
    Ellen wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Hatte sie jetzt ein SEK-Team auf dem Gewissen?
    »Übrigens sind wir noch nicht fertig mit unserem heutigen Spiel. Eigentlich haben wir noch gar nicht angefangen. Ach, zu dumm. Jetzt sind es tatsächlich nur noch dreihundert Sekunden. Genau, wie ich zuerst vorgeschlagen hatte. Was für ein Zufall.«
    Mühsam riss Ellen sich zusammen. Sie musste weitermachen. Es ging immer noch um einhundert Menschenleben. »Wo spielen wir heute?«, fragte sie. Ihre Stimme klang belegt, selbst in ihren Ohren.
    Wieder entstand eine winzige Pause. Dann sagte die Stimme: »Hier!«
    Gleichzeitig mit diesem einen Wort dröhnte ohne Vorwarnung lärmende Musik aus den Lautsprechern. Ellen hielt sich die Ohren zu. Hastig regulierte Khalid den Pegel nach unten. Der Monitor zeigte wirbelnde Farben. Erst nachdem ihr Gehirn die Eindrücke sortiert hatte, erkannte Ellen die vielen Menschen, die sich rhythmisch bewegten. Jugendliche in einer Diskothek tanzten dicht an dicht.
    »Hier stören uns keine modernen Kommunikationsmittel wie in der Oper«, sagte die Stimme. »Bei diesem tollen Sound fällt ein harmloser Klingelton bestimmt nicht auf, und so heftig, wie die Bässe wummern …«
    … spürt auch niemand ein Handy vibrieren.

25
     
    Faruk und Argün stammten aus dem gleichen Dorf, sogar aus der gleichen Straße. Solange sie denken konnten, hatten sie immer alles gemeinsam gemacht. Als Heranwachsende zogen sie mit Vorliebe durch die Umgebung des Dorfes und stauten einen der zahlreichen Bäche an den Hängen des Taurus-Gebirges auf. Im Dorf hießen sie nur »die Zwei«.
    So wunderte es niemanden, dass Faruk und Argün gemeinsam nach Berlin zogen, um an der Technischen Universität zu studieren. Doch nach zwei Jahren geschah das Undenkbare: Argün verließ die Universität und besuchte eine Koranschule. Von da an änderte sich sehr viel, aber eines nicht: Ihre Freundschaft blieb bestehen.
    Faruk saß in seinem winzigen Zimmer in Kreuzberg. Er war zufrieden, denn von hier aus hatte man einen schönen Ausblick auf den Oranienplatz, besonders auf den Drachenbrunnen an der nördlichen Seite. Aus dem bunten Mix immerwährender Geräusche der Stadt hörte Faruk das Knattern von Argüns Moped heraus. Dass dieses Teil noch lief, konnte als kleines Wunder gelten. Im Licht der Straßenlampe sah Faruk seinen Freund absteigen. Argün trug wie immer eine islamische Sunnah-Hose, die luftig um seine Beine

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