Zehntausend Augen
»Nein!«
Faruk bekam Angst. Nicht nur um seinen Monitor, auch um Argün. So hatte er seinen Freund noch nie erlebt. Unter Aufbietung aller Kräfte zerrte er ihn vom Monitor weg.
»Was ist denn los?«
»Hülya«, stöhnte Argün. »In der Disco ist Hülya.«
»Welche Hülya? Ich kenne mindestens drei Hülyas.«
»Meine kleine Schwester Hülya.« Argün zitterte am ganzen Leib.
»Du täuschst dich. Man erkennt kaum etwas auf dem Bild. Das kann nicht sein.«
»Nein. Ganz bestimmt.« Wieder stürzte Argün zum Monitor und suchte die Menschenmenge ab. Alle, die man sehen konnte, tanzten. Es war sehr schwer, überhaupt jemanden zu erkennen. »Da ist sie«, rief er.
Faruk hielt das Bild an und vergrößerte den Ausschnitt, auf den Argün zeigte. Eine junge Frau in einem silbrig glänzenden, eng anliegenden Top war dort zu erkennen. Dazu trug sie passende Hotpants, die Hülya gar nicht mehr wie eine kleine Schwester aussehen ließen.
»Das ist Hülya.« Argün verlor kein Wort darüber, mit welchem Outfit Hülya in der Disco auftrat.
»Was macht deine Schwester in Berlin?«
»Sie ist auf einem Schüleraustausch und wohnt bei meiner Tante«, schluchzte Argün. »Nein. Das darf nicht sein! Ihr darf nichts passieren. Nicht meiner Hülya.«
Faruk kannte Hülya nur flüchtig von früher. Für kleine Schwestern hatte er sich nie interessiert. Er selbst hatte nur Brüder, und die waren alle älter.
Argün klammerte sich wieder mit beiden Händen am Monitor fest, als ob er Hülya auf diese Art aus der Disco herausreißen könnte. »Die Zahlen werden immer kleiner. Sie müssen etwas tun! Sie müssen etwas tun!«, rief er. »Meine Hülya darf nicht sterben.«
»Jetzt beruhig dich doch.«
»Wie soll ich mich beruhigen?«, fuhr Argün ihn an. »Meine Schwester tanzt in einer Disco, in der gleich eine Bombe hochgeht, und die Polizei tut nichts.« Er zeigte auf den Countdown. »Meine Schwester hat nur noch fünfzig Sekunden zu leben.«
Hülya tanzte fröhlich weiter. Sie hob die Arme, klatschte zur Musik – und ahnte nichts von den Zahlen, die kleiner und kleiner wurden.
»Die Frau wird es schon machen«, sagte Faruk.
»Was?«, fragte Argün.
»Diese Polizistin. Sie wird dafür sorgen, dass deiner Hülya nichts passiert. Ganz bestimmt.«
26
Ellen verfolgte den Countdown. Die Disco hatten sie lokalisiert, sie lag an der Prenzlauer Allee, und das Team in Sektor I war schon auf dem Weg. Doch sie hatten keine Chance, rechtzeitig vor Ort zu sein und die Disco zu räumen.
Den ganzen Tag lang hatte sich in Ellen die Spannung gesteigert, ohne dass das Adrenalin durch eine Aktivität abgebaut wurde. Dann hatten sich die Ereignisse überschlagen – aber anders als erwartet. Ihr sorgfältig ausgearbeiteter Plan war zur Farce verkommen. Anstatt den Erpresser in eine Falle zu locken, hatte er seinerseits ein ganzes SEK-Team in eine Falle gelockt. Die Ungewissheit, was mit Stefan und seinen Leuten geschehen war, belastete Ellen enorm. Nach dem, was sie gehört hatte, musste sie eine Katastrophe befürchten. Im schlimmsten Fall war das ganze Team verloren. Zeit, das in irgendeiner Art zu verarbeiten, ließ ihr der Erpresser nicht. Unerbittlich trieb er sein Spiel weiter, lockte sie auf falsche Fährten und beraubte sie Stück für Stück aller Möglichkeiten, die sie sich erarbeitet hatte.
Ihr morgendlicher Elan war vergangen wie eine Schneeflocke in einem Backofen. Alle Pläne durchkreuzt, alle Möglichkeiten verspielt. Vielleicht gab es jetzt schon Tote zu beklagen. Dabei war die Bombe noch gar nicht hochgegangen. Und all das wurde von einer überaus freundlichen Frauenstimme verhandelt, die keinerlei Emotionen erkennen ließ.
Die Jugendlichen in der Disco tanzten im blitzenden Schwarzlicht. Die Zahl schnappte von der Dreißig zur Neunundzwanzig. Für die Statusmeldungen des heraneilenden SEK-Teams interessierte Ellen sich nicht. Sie spielten keine Rolle. Ruhig zog sie zuerst ihre Schuhe aus und dann ihre Hose.
Als der Countdown bei elf stehen blieb, spürte Ellen keine Befriedigung. Sie hatte gewusst, dass er stehen bleiben würde. Der Erpresser wollte sie zum Äußersten bringen. Er und sie wussten beide, dass Ellen alles tun würde, um das Leben der Menschen zu retten.
»Sehr schön«, sagte die freundliche Stimme in die Stille der Zentrale. »Ich darf Ihnen zum erfolgreichen Absolvieren des zweiten Levels gratulieren.«
»Sie können sich Ihre Gratulation sparen. Die brauche ich nicht. Was ist mit dem
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