Zehntausend Augen
schlackerte, dazu ein Hakim-Yaka-Hemd und, zu allem Überfluss, eine Häkelmütze. Faruk bevorzugte enge Jeans und noch engere T-Shirts, die seine Muskeln so richtig zur Geltung kommen ließen.
Während Argün die Treppen zu Faruks Wohnung emporstieg, hätte Faruk beinahe eine Bemerkung über Argüns Kleidung gemacht, aber es fiel ihm nichts ein, das er nicht schon mindestens zwanzig Mal gesagt hatte. Also ließ er es bleiben und begrüßte seinen Freund nur mit einer kurzen Umarmung.
Argüns Blick blieb an Faruks PC hängen, der auf dem Schreibtisch stand und angeschaltet war. »Ich dachte, wir wollten Okey spielen. Ich habe keinen Bock auf Internet.«
Faruk seufzte. »Ja, weiß ich. Aber heute ist es besonders spannend.«
Argün trat näher an den Monitor heran und runzelte die Stirn. »Du siehst also auch diese Übertragung von der Polizei.«
»Sie haben endlich die Internetübertragung störungsfrei hingekriegt. Das kann ich mir nicht entgehen lassen.«
»Du solltest so etwas nicht ansehen. Das ist nicht gut für deine Seele.«
»So, meinst du?« Natürlich kannte Faruk Argüns Meinung. Trotzdem konnte er es nicht lassen, die Diskussion loszutreten. »Und warum nicht?«
Argün warf nur einen kurzen Blick auf den Monitor und sah sofort wieder weg, als könnte man sich durch einen längeren Blick mit etwas anstecken. »Was denkst du über diese Frau?«
»Sie ist mutig – und sieht unglaublich geil aus.«
Argün zuckte bei den letzten Worten. »Eine Frau, die sich vor anderen auszieht, ist eine Hure«, sagte er. »Und wer einer Hure zusieht, beschmutzt seine Seele.«
»Das tut doch jeder. Du kannst mir nicht erzählen, dass an deiner Schule niemand ist, der sich das ansieht.«
»Wir diskutieren darüber«, gab Argün zu.
»Ach, ihr diskutiert darüber«, wiederholte Faruk gedehnt. »Und was sagt dein Lehrer dazu? Darf eine Frau sich ausziehen, wenn sie dadurch Menschen retten kann? Ist sie dann eine Hure oder eine Heldin?«
Argün zögerte. »Wir sind noch nicht fertig mit der Diskussion«, sagte er dann.
»Aber du bist fertig damit?«
Argün setzte sich an den Tisch. »Ich bin zum Spielen hergekommen und nicht zum Streiten.«
»Ja, ja, ich verstehe.« Faruk ließ die Okey-Steine auf die Tischplatte fallen. Dann holte er Argün einen Tee und sich ein Bier.
Als Faruk sich die erste Zigarette ansteckte, begann dieses Mal Argün: »So viel, wie du rauchst, verkürzt du die Lebensspanne, die Allah dir gegeben hat.«
Ein anderes Streitthema, das deutlich machte: Es gab nur eins, das sie lieber taten, als miteinander zu spielen, und das war streiten.
»Allah hat sich bestimmt schon überlegt, wann er mich sterben lässt«, sagte Faruk leichthin. »Er wird seine Pläne sicher nicht wegen ein paar Zigaretten umstoßen.«
Faruk wusste, dass er Argün mit solchen Sprüchen ärgerte, aber genau deshalb sagte er sie.
In dieser Art ging es weiter, während sie die Okey-Steine mit Elan auf die Platte knallten. An normalen Tagen gewann Faruk zwei von drei Spielen. Doch um Okey zu gewinnen, musste man sich konzentrieren, was ihm heute schwerfiel. Immer wieder schielte er zum Monitor hin. Zwar nahm er die Übertragung auf Festplatte auf, aber live war doch etwas anderes. Argün nutzte diese Schwäche schamlos aus und gewann ein ums andere Mal.
Faruk hatte gerade beschlossen, sich mehr auf das Spiel zu konzentrieren, als laute Musik aus dem PC dröhnte. Auch Argün sah überrascht zum Monitor. Der zeigte wilde Farbspiele.
»Was ist denn da los?« Faruk stand auf, um sich die Szene genauer anzusehen. »Das ist eine Disco«, stellte er fest. »Wow, die Stimmung ist fast so wie damals in Istanbul, im Bostanci. Weißt du noch? Das musst du dir ansehen.«
Faruk wusste, dass Argün nichts mehr von Discos hielt. Sie waren in seinen Augen Sündentempel, und die Bostanci-Disco war ein besonders großer.
»Warum zeigen sie eine Disco?«, fragte Argün aus zwei Metern Sicherheitsabstand vom Computer.
»Vermutlich droht der Erpresser, dort eine Bombe zu zünden. Mann, das wäre aber brutal.«
»Und so was willst du …« Argün stockte. Dann stieß er Faruk beiseite und sprang nach vorne, fast in den Monitor hinein.
»Hey, was soll das?« Faruk stieß Argün in die Seite, doch der reagierte nicht. Seine Augen waren starr auf den Monitor gerichtet. »Na? Doch interessiert?«
Argün reagierte immer noch nicht. Dann sagte er leise: »Nein.« Dann lauter: »Nein!« Mit beiden Händen packte er den Monitor und schrie:
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