Zeit deines Lebens
und deshalb war auch die Kundschaft etwas Besonderes. In der Bar befanden sich eine Handvoll Weihnachtseinkäufer, die sich ein Stück von den ausgetretenen Touristenpfaden entfernt hatten, um sich eine Pause zu gönnen und die halberfrorenen Finger an einem Glas mit einem heißen Getränk zu wärmen. Daneben wurde der Pub hauptsächlich von Angestellten jeden Alters frequentiert, die sich nach einem harten Tag hier entspannten. Menschen in Anzügen drängten sich auf den Bänken, Bierund Schnapsgläser auf den Tischen. Schon um diese Zeit – kurz nach sechs – waren die Menschen dem Business District entflohen und suchten Zuflucht im nächstbesten Ort alkoholischer Erbauung.
Zu diesen Menschen gehörte auch Bruce Archer, der mit einem Guinness an der Bar saß und dröhnend über einen Witz lachte, den einer seiner Nachbarn – ebenfalls ein Anzugträger – gemacht hatte. Wie Hühner auf der Stange {142 } saßen die Männer am Tresen, Schulterpolster an Schulterpolster, fast durchweg in Nadelstreifen, karierten Socken und blankpolierten Schuhen, Tabellen und Marktanalysen in den Aktentaschen. Keiner von ihnen trank Kaffee. Lou hätte es wissen müssen. Er hatte nicht daran gedacht, aber als er die Männer jetzt sah, wie sie lachten und sich gegenseitig auf den Rücken schlugen, war er kein bisschen überrascht, also musste er es gleichzeitig doch gewusst haben.
Bruce wandte sich um und entdeckte ihn sofort. »Lou!«, rief er quer durch den Raum. Er hatte einen ausgeprägten Bostoner Akzent, und mehrere Gäste wandten interessiert den Kopf, allerdings weniger wegen Bruce, sondern um den gutaussehenden und tadellos gekleideten Mann zu betrachten, der soeben hereingekommen war. »Lou Suffern! Schön, dass wir uns endlich mal wiedersehen!« Damit erhob er sich vom Barhocker, kam mit ausgestreckten Armen auf Lou zu, packte seine Hand und schüttelte sie überschwänglich wie ein Hund seine Beute, während er ihm mit der anderen kumpelhaft auf den Rücken klopfte. »Ich möchte Sie gern mit den Jungs bekannt machen. Jungs, das ist Lou. Lou Suffern, von Patterson Developments. Wir haben zusammen am Manhattan Building gearbeitet, von dem ich euch erzählt habe, und eines Abends hatten wir ein echt wildes Erlebnis zusammen. Wartet nur, bis ihr die Geschichte hört, ihr werdet’s nicht glauben. Lou, das ist Derek aus … « Und so ging Lou in einem Meer von Namen unter, die er im gleichen Augenblick wieder vergaß. Er versuchte, das Bild seiner Frau und seiner Tochter aus seinem Kopf zu verjagen, während er eine Hand nach der anderen schüttelte, die seine entweder fast zerquetschte, zu feucht oder zu schlaff war oder ihm vor lauter Schütteln halb die Schulter ausrenkte. Er versuchte zu vergessen, dass er für {143 } das hier seine Familie im Stich gelassen hatte. Er versuchte alles zu vergessen. Die Männer lachten ihn aus, als er Kaffee bestellte, und drängten ihm ein Bier auf, und als er nach dem ersten Pint gehen wollte, überhörten sie ihn einfach. Das Gleiche passierte nach dem zweiten Pint. Und nach dem dritten. Beim vierten hatte er die Diskussionen satt und ließ sich überreden, von Bier auf Jack Daniels umzusteigen, und das Klingeln seines Handys wurde umgehend von pubertärem Gejohle übertönt. Danach brauchte Lou keine Überredung mehr. Während das Handy alle zehn Minuten vibrierend einen Anruf von Ruth anzeigte, feierte er mit Bruce Archer und seinen Jungs. Ruth würde es verstehen – und wenn nicht, war sie eine total uneinsichtige Person.
Auf der anderen Seite der Bar saß eine Frau, die Lous Aufmerksamkeit auf sich zog; auf dem Tresen standen der nächste Whisky und eine Coke. Sinn und Verstand waren mit den Rauchern nach draußen gegangen, und da standen sie und fröstelten, überlegten, ob sie ein Taxi rufen sollten, sahen sich aber gleichzeitig nach jemandem um, der sie mit nach Hause nehmen und nett zu ihnen sein würde. Und dann ging Sinn, halberfroren und entsetzlich frustriert, mit den Fäusten auf Verstand los, während Lou der Szene den Rücken zuwandte und sich auf sein Ziel konzentrierte.
12 Die Überholspur
Irgendwann musste Lou einsehen, dass er viel zu betrunken war, um die attraktive junge Frau abzuschleppen, die ihm in der Bar den ganzen Abend flirtige Blicke zugeworfen hatte. Auf dem Weg zu ihrem Tisch stolperte er über seine eigenen Füße und warf das Weinglas ihrer Freundin um, so dass der Inhalt auf ihrem Schoß landete. Auf dem der Freundin, nicht auf dem der Hübschen
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