Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman
gekommen, um sich streicheln zu lassen. Und gerade er ist im Krieg draufgegangen, sein Leben für nichts und wieder nichts vergeudet. Joel ist in der Stadt aufgewachsen, er mag das Gedränge in den Straßen, den Geruch des Flusses, wenn Nebel aufzieht, die Nächte, in denen es nie wirklich dunkel wird. Als er zum ersten Mal eine Eule gehört hat, ist er vor Schreck erstarrt.« Ein Lächeln spielte um seine Mundwinkel, doch er nahm es gar nicht wahr. »Ich habe ihm gesagt, es sei ein Dämon, drüben in Frith’s Wood, der nach den Verfluchten sucht. In der Nacht, als die Eule draußen vor seinem Fenster geschrien hat, auf diesem Baum dort, ist er zu Robbie ins Bett gekrochen und hat sich die Decke über den Kopf gezogen. Und am nächsten Morgen hat mein Vater mich mit dem Riemen versohlt, weil ich meinem Bruder Angst eingejagt habe. Na ja, meinem Halbbruder. Wir waren früher nicht besonders nett zu ihm. Er war nicht in seinem Element, und wir hätten es ihm leichter machen sollen, als wir es getan haben. Ich habe später versucht, ihn dafür zu entschädigen.«
Er redete wie ein Mann, dem jeder menschliche Umgang versagt ist. Seine Frustration, seine Schuldgefühle und sein ausgeprägtes Pflichtbewusstsein waren aus ihm herausgesprudelt.
Hamish sagte: »Und wie hat das dieser Bruder gesehen?«
Baylor sagte, als wollte er Hamishs Frage beantworten: »Ich nehme an, nach einer Weile hat er es uns verziehen. Aber wir wussten nicht, was wir von ihm halten sollten, als er nach dem Tod seiner Großmutter bei uns eingezogen ist. Sie hatte immer eine Schwäche für ihn, wahrscheinlich deshalb, weil er außer ihr niemanden hatte. Aber wir waren neidisch auf ihn, Robbie und ich, und zwar nur, weil er anders war als wir. Weniger umgänglich, manchmal arrogant und normalerweise rundum unsympathisch. In der Schule ist er uns auch zur Last gefallen - beim Fußball war er besser als wir, seine Reaktionen waren schneller, und er war stärker.«
Die Kälte ließ ihn schaudern, als er in seinem Flanellhemd im kalten Wind stand, und doch schien es ihm zu widerstreben, in die Wärme des Hauses zurückzukehren.
Rutledge konnte spüren, dass Baylor wieder einmal Schuldbewusstsein plagte, weil er wünschte, Joel wäre in dem Feuer in seinem Zimmer gestorben, seine Lunge mit Rauch vollgesogen. Aber er hatte seinen Bruder gerettet und gegen Wünsche hatte das Gesetz keine Handhabe.
Nach einem Moment wandte sich Baylor an ihn und sagte, als würden ihm die Worte gewaltsam entrissen: »Wie geht es ihr?«
Er tat so, als wüsste er es nicht.
»Ich vermute, sie fragt sich, was schiefgelaufen ist. Ich habe sie weinend vorgefunden, nachdem Sie wieder gegangen waren.«
Baylor fluchte erbittert.
»Es ist aussichtslos. Aber ich werde Joel nicht beschämen, indem ich es ihr sage. Ihnen hätte ich auch nicht so viel erzählen sollen. Manchmal scheint es, als sprudelten die Worte einfach
aus mir heraus, und ich kann sie nicht aufhalten. Das hätte mir nicht passieren dürfen.«
»Haben Sie schon mal mit dem Pfarrer gesprochen? Er scheint ein sehr verständnisvoller Mann zu sein.«
»Genau deshalb kann ich nicht mit ihm reden.« Er sah Rutledge an. »Er würde zu viel verstehen. Ich werde unermüdlich weiterkämpfen müssen und sehen, wie ich es überstehe.«
»Was ist Joel im Krieg zugestoßen?« Rutledge spürte, wie seine eigene Anspannung zunahm, denn er wusste, wie die Antwort lauten würde. Schützengrabenneurose. Aber Baylor überraschte ihn.
»Er hat sich eine Gasvergiftung zugezogen. In Ypres. Seine Lunge ist total hinüber. Ich lausche nachts auf die Geräusche, und ich verfluche sie alle, die Generäle und die Deutschen und den Wind, der an jenem Morgen geweht hat. Er hat gesagt, es hätte nach Veilchen gerochen. Seltsam, das aus dem Mund eines Stadtmenschen zu hören. Aber genau das hat er gesagt.«
»Ja, dasselbe habe ich auch schon gehört.«
Jetzt trat Stille zwischen ihnen ein. Die Kirchturmuhr schlug die halbe Stunde. Schließlich holte Baylor tief Atem und bereitete sich darauf vor, wieder ins Haus zu gehen. »Sie besitzen die Gabe zuzuhören. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, Sie hätten mich mit einem Trick dazu gebracht zu reden. Aber seit Robs Tod hat es niemanden mehr gegeben und es hat sich aufgestaut. Ich würde Sie bitten zu vergessen, was Sie gehört haben, wenn ich es nicht für unmöglich hielte.«
»Gehen Sie wieder zu Ihrem Bruder. Ich werde keine weiteren Gerüchte in Umlauf
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