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Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman

Titel: Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Todd Ursula Gnade
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bleiben sollten.«
    »Konnten Sie auf den Truppenverbandsplätzen durch Handauflegen erkennen, welche Patienten überleben und welche sterben würden?«

    »Das war nicht nötig. Ich konnte den Ärzten ins Gesicht sehen und dort die Antwort lesen. Aber es stimmt schon, mit der Zeit entwickelt man einen sechsten Sinn für solche Dinge. Das hat mir gar nicht behagt, und ich habe dagegen angekämpft. Ich habe sogar versucht, mich zu distanzieren und nicht zuzulassen, dass meine Gefühle in Mitleidenschaft gezogen werden. Es hat nicht geklappt.«
    Mrs. Channing trank ihren Tee aus und stellte die Tasse ab. »Danke, Inspector. Der Tee hat mir gutgetan. Wollen Sie, dass ich nach London zurückfahre und Sie sich selbst überlasse?«
    Sie hatte eine Art, in eine anscheinend harmlose Bemerkung einen gewaltigen Gedankensprung einfließen zu lassen.
    »Ich weiß es nicht«, antwortete er ihr wahrheitsgemäß. »Ich wünschte, ich wüsste, was Sie wollen.«
    Sie stand da und sah auf ihn hinunter. »Wenn ich Sie mit meiner Vorspiegelung einer Séance nicht in Alarmbereitschaft versetzt hätte, hätten Sie Mrs. Brownings Party nicht vorzeitig verlassen. Dann hätte vielleicht ein anderer diese Patronenhülse gesehen und sich nichts dabei gedacht. Stattdessen haben Sie sie gefunden, und das hat etwas Erschreckendes ins Leben gerufen. Ich fühle mich in gewisser Weise verantwortlich, verstehen Sie?«
    »Wollen Sie damit sagen, wer auch immer als Erster aus dem Haus gegangen wäre - ich oder Commander Farnum -, den hätte derjenige, der die Hülse dort deponiert hat, als sein Opfer auserkoren?«
    Sie gab ihm keine Antwort.
    »Was wäre passiert, wenn es der Arzt gewesen wäre? Er war nicht im Krieg.«
    »Dann wäre es eine andere Person an einem anderen Tag gewesen.«
    Das war eine äußerst interessante Möglichkeit.
    Aber sie ließ ihm keine Zeit für ein Gespräch darüber. Er stand auf, um ihr in den Mantel zu helfen, und sie verschwand mit einem Lächeln.

    In der Stille schienen die Wände des Raums enger um ihn zusammenzurücken. Er stand auf, ging zur Tür und betrachtete das Schloss, für das es keinen Schlüssel gab.
    Er war nicht sicher, ob es schlimmer war, sich selbst als Zielscheibe von jemandem anzusehen, der einen Groll gegen ihn hegte, oder sich als ein rein zufälliges Opfer betrachten zu müssen. Ein Mann, der einen Groll hegte, war wenigstens begreiflich, man konnte ihn sogar ausfindig machen und ihm Einhalt gebieten. Jemand, dessen Wahl rein zufällig auf ihn gefallen war, war wie Rauch im Dunkeln, unsichtbar, bis sein Opfer unversehens hineinwankte.

26.
    Es war schon spät, und das Licht des Nachmittags wurde schwächer, als Rutledge in dem Schuppen hinter Hensleys Haus, genau da, wo er damit gerechnet hatte, einen Rechen und eine Mistgabel fand. Dort standen auch eine Sturmlaterne und ein robustes Paar Stiefel.
    Der Wind war immer noch sehr kalt, doch bei Sonnenuntergang ließ er nach. Um sieben Uhr waren die Geschäfte geschlossen und die Straßen so gut wie menschenleer. Er warf den Rechen und die Mistgabel in seinen Wagen, überprüfte in der Küche die Sturmlaterne, fand seine Taschenlampe und fuhr, sowie er zu Abend gegessen hatte, aus Dudlington heraus.
    Er ließ den Wagen sehr dicht an der Stelle stehen, an der er Hensleys Fahrrad gefunden hatte, kletterte dann über die Mauer auf der anderen Straßenseite und machte sich querfeldein auf den Weg zu Frith’s Wood.
    Hamish, ein gestandener schottischer Presbyterianer, hielt in Rutledges Kopf einen mürrischen Monolog und rief ihm ins Gedächtnis zurück, dass es an Irrsinn grenzte, im Dunkel der Nacht in einem Wäldchen, in dem es spukte, den Teufel herauszufordern. »Es ist nicht ratsam, Türen zu öffnen, die besser nicht geöffnet werden sollten.«
    »Ich bin hier, um eine Tür zu schließen«, antwortete er.
    Irgendwo bellte ein Fuchs, zweimal. Er lief weiter und war dankbar dafür, dass kein Mond schien, der auf ihn aufmerksam
gemacht hätte, eine einsame Gestalt am Rande der sanft abfallenden Weiden.
    Als er das Wäldchen erreichte, blieb er stehen, um sich zu orientieren. Da und dort konnte er beleuchtete Fenster in der Ortschaft sehen und sogar der Wetterhahn auf der Spitze des Kirchturms warf ihren Schein zurück.
    Niemand war auf den Weiden, niemand folgte ihm von der Straße aus, niemand war ihm in das Wäldchen vorausgelaufen. Dennoch wünschte er einen Moment lang, er könnte Hamish sagen, er solle einen Wachposten aufstellen, wie er es in

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