Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman
möglich, dass sie dort verabredet war, denn Emmas Verhalten hatte etwas Verstohlenes an sich gehabt.
Der letzte Bericht stammte von Mrs. Simpson. Als sie kurz nach Einbruch der Abenddämmerung aus dem Fenster geschaut hatte, hatte sie Emma mit einem Mann streiten sehen, den sie bei der schlechten Beleuchtung allerdings nicht identifizieren konnte. Das Mädchen hatte sich von ihm abgewandt, das Haus der Großmutter betreten und die Tür »mit Wucht« hinter sich geschlossen. Mrs. Simpson hatte den Mann nicht beschreiben wollen, »aus Furcht, sie könnte sich geirrt haben«, und Hensley hatte schriftlich festgehalten, er hätte sie nicht zu einer Beschreibung gedrängt.
Rutledge konnte nicht sicher sein, ob es sich bei diesen Papieren um Kopien oder um die Originale handelte, die Hensley nicht an Inspector Abbot in Letherington weitergereicht hatte. Ebenso wenig konnte er mit Sicherheit sagen, ob der Constable sie behalten hatte, um sie für seine eigenen Nachforschungen zu benutzen, oder ob er versuchte, die Rolle zu verheimlichen, die er selbst bei dem Verschwinden des Mädchens gespielt hatte. War er vielleicht der Mann gewesen, den Mrs. Simpson gesehen hatte, aber nicht nennen konnte?
Mrs. Ellisons Gehör ließ nach - sie konnte überhört haben, dass ihre Enkelin mitten in der Nacht das Haus verlassen hatte. Sie hätte aber auch überhört haben können, dass jemand an die Tür gekommen war und das Mädchen unter einem Vorwand aus dem Haus gelockt hatte.
Alles in allem hatte Rutledge so oder so kein belastendes Material gefunden. Nicht genug Geld, um zu beweisen, dass Hensley in London eine Bestechungssumme angenommen hatte,
und auch keinen Beweis dafür, dass er etwas mit dem Verschwinden des Mädchens zu tun gehabt hatte.
Eigentümlich war nur, dass die Anfrage nach Sandridge und die Vernehmungen zu Emma Masons Verschwinden gemeinsam hier aufbewahrt wurden.
Als bestünde ein Zusammenhang.
Rutledge legte die beschriebenen Blätter zur Seite und machte sich Gedanken über das, was er gerade gelesen hatte.
Mit wem hatte das Mädchen gesprochen, als Mrs. Simpson sie in der Abenddämmerung gesehen hatte? War es Hensley? Wenn ja, dann hatte er seine Spuren geschickt verwischt, indem er selbst zugegeben hatte, ihr auf der Straße begegnet zu sein. Und Mrs. Simpson hatte Emma anschließend das Haus ihrer Großmutter betreten sehen. Aber mit wem hatte sie sich getroffen, als sie die Kirche verlassen hatte und in die Felder gelaufen war?
Falls die Frau des Bäckers den Verdacht gehabt hatte, Hensley sei es gewesen, den sie in der Dämmerung gemeinsam mit Emma Mason auf der Straße gesehen hatte, dann würde das die Gerüchte erklären, die dem Constable die Schuld an ihrem Verschwinden gaben. Da eine Bemerkung und dort eine Äußerung, an die sich jemand erinnerte, eine lebhafte Phantasie, die eine weitere Information hinzufügte, und binnen kürzester Zeit würde der Argwohn ins Kraut schießen.
Hamish sagte: »Du vergisst diese Frau mit den Rosensträuchern.«
Grace Letteridge konnte ohne Weiteres die Person sein, die Gerüchte über Hensley in Umlauf gesetzt hatte. Aus ganz persönlichen Gründen.
Sie hatte sich mit Emma gestritten. Hatte sich wieder Eifersucht zwischen den beiden geregt? Ging es um Robert Baylor?
Er hatte einmal behauptet, Eifersucht führte zu Verbrechen aus Leidenschaft.
Etwas konnte diese Eifersucht schlagartig wieder ins Leben gerufen haben.
Emma Mason hätte das Haus ihrer Großmutter vielleicht nicht ohne Weiteres mitten in der Nacht verlassen, um sich mit einem Mann zu treffen, aber es konnte sehr gut sein, dass sie an die Tür gekommen wäre, wenn eine verstörte Grace Letteridge angeklopft hätte.
Dieses Bild konnte er nicht aus seinen Gedanken verbannen. Emma, in deren Schlafzimmer die Lampe bis spät in die Nacht hinein brannte, weil sie immer noch wach war. Grace Letteridge, die aus ihrem eigenen Fenster das Haus beobachtete, bis Mrs. Ellison zu Bett gegangen war, und dann noch eine Zeit lang wartete, damit die alte Frau auch ganz bestimmt schlief. Stille im Dorf, nur das Geräusch der Kirchturmuhr, die die Stunden schlug. Grace, die in ihrer Tür stehen blieb, um sich zu vergewissern, dass niemand sie beobachtete, und erst dann über die Straße huschte. Emma, die ihr die Tür öffnete, weil Dudlington ein Dorf war, wo sie jeden kannte und keinen fürchtete. Und Grace, die mit Tränen in den Augen dastand und sagte, sie könne nicht schlafen, sie müssten ihren Streit
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