Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman
geöffnet und wieder geschlossen, dass er anfangs nicht sicher war, ob er die Geräusche tatsächlich gehört hatte. Der Eindringling hatte einen Haken geschlagen und war fort.
Durch seine bloße Gegenwart hatte er ihm eine Nachricht übermittelt. »Ich hätte dich mühelos töten können, während du geschlafen hast.«
So viel zu Meredith Channings Voraussage, dass es vorbei war.
Rutledge blieb in dem vorderen Wohnzimmer stehen, das Hensley als Polizeirevier diente, und ihm wurde klar, dass er ohne Schlüssel auf Gedeih und Verderb einer Person ausgeliefert war, die es darauf abgesehen hatte, ihn in Angst und Schrecken zu versetzen. Es war nur eine Frage der Zeit, wann dieser Zeitvertreib seinen Reiz verlor und der Entschluss fiel, dieses Spiel sein logisches Ende nehmen zu lassen.
Und er hatte das Gefühl, er würde den Schlag nicht kommen sehen.
Am Morgen darauf suchte Rutledge Grace Letteridge auf und fand sie grübelnd bei ihren Rosen vor.
»Ich glaube, dieser hier wird es nicht schaffen«, sagte sie zu ihm, als er den Gehweg heraufkam. »Die Wurzeln sind nicht widerstandsfähig genug.« Sie bog den Strauch hin und her. »Mit Sicherheit werde ich es erst im Frühjahr wissen, aber es sieht nicht gut aus.«
»Tja, das ist bestimmt der, von dem ein Dorn in meinem Rücken abgebrochen ist. Ich würde darauf schwören.«
Sie richtete sich auf und wischte ihre Hände ab. »Sie sind ein Lügner.«
»Wahrscheinlich. Lassen Sie uns ins Haus gehen, damit ich Ihnen ein paar Fragen stellen kann.«
»Weshalb denn das? Ich habe nichts verbrochen. Und ich kenne auch niemanden, der etwas verbrochen hat.«
»Trotzdem …«
Sie ging widerstrebend ins Wohnzimmer voraus und setzte sich. Ihre Bereitschaft, ihm Knüppel zwischen die Beine zu werfen, war offensichtlich. Er konnte ihre Ablehnung deutlich spüren.
»Erzählen Sie mir etwas über Robbie Baylor - nein, springen Sie mir nicht ins Gesicht. Das ist wichtiger als Ihr Stolz.«
Grace Letteridge funkelte ihn finster an. »Mir ist mein Stolz nun mal das Wichtigste!«
»Ich weiß. Genau deshalb sind Sie nach London gegangen, um ihn und Emma und Dudlington abzuschütteln.«
»Sie war sehr hübsch. Er hat mir erzählt, er hätte nichts dagegen tun können. Er hätte sie doch nur in seine Arme ziehen wollen, und ehe er wusste, wie ihm geschah, hätte er sie im Gras auf den Boden gepresst und sie geküsst. Sie hat ihm das Gesicht zerkratzt. Und dann hat er sie geohrfeigt.«
»Und deshalb sind Sie fortgegangen.«
»Er hatte bereits beschlossen, zum Militär zu gehen. Aber jedes Mal, wenn ich Emma gesehen habe, hat mich ihr Anblick daran erinnert, wie hübsch er sie fand und dass sein Gelübde mir gegenüber ihn nicht davon abhalten konnte, sie zu … Was weiß ich, was er mit ihr vorhatte. Emma hat sich geweigert, mir aus ihrer Sicht zu schildern, was vorgefallen war. Ich vermute, sie hat sich geschämt, sie war schockiert und erschrocken und hatte das Gefühl, mich verraten zu haben. Aber ich habe lange Zeit geglaubt, sie müsste ihn in irgendeiner Form ermutigt haben. Es war mir lieber, ihr die Schuld zu geben und nicht ihm, obwohl ich wusste, dass es falsch war. Constable Markham hat
es Vergnügen bereitet, Andeutungen fallen zu lassen, verstehen Sie? Und natürlich hatte ich die Kratzer in Robs Gesicht gesehen. Nachdem ich mich fast eine Woche lang gefragt hatte, was es damit wohl auf sich haben könnte, habe ich ihn in die Enge getrieben und ihn gezwungen, mir die Wahrheit zu sagen.«
»Weshalb sind Sie nach Dudlington zurückgekommen?«
»Als Rob gefallen ist, wurde unter seinen Habseligkeiten ein Brief gefunden. Er war an mich adressiert und sollte im Falle seines Todes abgeschickt werden. Darin hat er mir noch einmal berichtet, was sich damals abgespielt hat, und er hat geschrieben, er hätte es seitdem bedauert und wollte nicht mit dieser Last auf seinem Gewissen sterben. Er hätte mich wahrhaftig geliebt - und er wollte meine Vergebung.«
Sie hielt mühsam die Tränen zurück und wandte den Blick von ihm ab.
»Was haben Sie nach Ihrer Rückkehr zu Emma gesagt?«
»Ich habe ihr seinen Brief gezeigt. Ich fand, sie hätte ein Recht darauf, es zu erfahren.«
»Alles?«
»Alles, was zählte. Aber unsere Freundschaft war nicht mehr zu kitten. Ich hatte ihr nicht vertraut, und ich hatte sie im Stich gelassen, als sie mich mehr denn je brauchte, und das ließ sich nicht wiedergutmachen.«
»Wenn Sie die Chance bekämen, den Sommer 1914 noch einmal zu
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