Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman
angeschaltet waren.
»Bei ihrer Oma hat sie es gut gehabt«, bemerkte Hamish, während Rutledge sich umsah. »Sie ist nicht weggelaufen, weil sie zu Hause unglücklich war.«
Rutledge erschien es, als seien seit Emma Masons Verschwinden keine Veränderungen vorgenommen worden. Das Zimmer war sauber und frisch und jederzeit bereit, seine Besitzerin zu empfangen, als würden diese drei trostlosen Jahre nicht existieren. In der Luft hing ein zarter Lavendelduft, und Hamish sagte: »Nur die Blumen fehlen.«
Das stimmte. Etwas, was im Einklang mit der hübschen Umgebung stand. Osterglocken in einer schmalen Glasvase, Veilchen in einem silbernen Gefäß, Rosen in einem cremeweißen Keramikkrug. Rutledge konnte es sich lebhaft vorstellen.
Aber das Zimmer war frei von persönlichen Gegenständen, keine Puppen, über die die Bewohnerin schon lange hinausgewachsen
war, nur ein paar häufig gelesene Bücher auf dem Regal neben dem Bett und eine einzige Fotografie von Mrs. Ellison in jüngeren Jahren, die neben einer tickenden Porzellanuhr auf dem Nachttisch stand.
Ein Schrein? Oder zeigte sich darin lediglich, wie eine trauernde Großmutter ihre Enkelin am liebsten in Erinnerung behalten wollte?
Er trat vor den Wandschrank und wollte die Tür gerade öffnen, als Mrs. Ellison mit scharfer Stimme sagte: »Dort finden Sie nur ihre Kleidung. Kleider und Mäntel und Schuhe. Und ein oder zwei Hüte. Sie brauchen doch gewiss nicht auszuspionieren, wie sie angezogen war.«
Das, was ihn eigentlich hierhergeführt hatte, hatte er bereits bestätigt gefunden.
Als sie die Treppe hinunterstiegen, fragte er: »Ich habe gehört, Emma hätte sich als kleines Mädchen für das Bogenschießen interessiert.«
Sie waren bereits am unteren Ende der Treppe angelangt, als sie ihm antwortete, und sie unterließ es ausdrücklich, ihn noch einmal ins Wohnzimmer zu bitten. »Emma hatte eine Phase, in der sie diese junge Frau bewundert hat, die in den Erzählungen über Robin Hood vorkommt. Der Name fällt mir im Moment nicht ein.«
»Lady Marian?«
Sie zog die Stirn in Falten. »Mein Gedächtnis ist auch nicht mehr das, was es früher einmal war. Schon lange nicht mehr - seit sie von mir gegangen ist. Jedenfalls hat sie sämtliche Bücher über diesen Wald gelesen, die ich für sie auftreiben konnte, Sie wissen schon …«
»Sherwood.«
»Ja. Danke. Da wollte sie unbedingt hin. Aber heute ist das wohl kein großartiger Wald mehr, nicht wahr? Ich habe den Pfarrer gefragt, und er hat gesagt, es wäre eine Enttäuschung für sie gewesen.«
»Frith’s Wood«, sagte Hamish. »Sie muss sich eingebildet haben, dort wimmelte es von Räubern und Helden.«
Einem Mädchen, dessen Phantasie um abenteuerliche Erzählungen aus früheren Zeiten und eine holde Maid in Nöten kreiste, hätte dieses Wäldchen aufregend und verwunschen erscheinen können.
»Können Sie mir sagen, wo sich ihre Pfeile und der Bogen jetzt befinden?«
»Gütiger Himmel, woher soll ich das wissen? Von mir hat sie die nicht geschenkt bekommen, und ich war von Anfang an dagegen.«
»Wer hat sie ihr geschenkt?«
»Das hat sie mir nie gesagt. Ich habe sie durch einen bloßen Zufall entdeckt und anschließend haben sie nie mehr offen herumgelegen.«
»Erinnern Sie sich noch an die Farbe der Federn am Ende des Pfeilschafts?«
Mrs. Ellison starrte ihn an. »Sie müssen verrückt sein! Natürlich nicht. Ich bin oft nicht mal sicher, welchen Wochentag wir haben, junger Mann. Dr. Middleton sagt, es wird immer schlimmer werden mit dieser Vergesslichkeit. Er sagt, das kommt von den Sorgen. Aber was sollte ich denn überhaupt in Erinnerung behalten? Dass ich erst meine Tochter und dann meine Enkelin verloren habe? Das sind wohl kaum Ereignisse, an denen man gern bis zum Ende festhält.«
Er bedankte sich bei ihr und ging.
Aber er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie ihn durch die Gardinen im Wohnzimmer beobachtete, als er die Straße überquerte und Hensleys Haustür öffnete. Sie hatte ganz richtig erkannt, dass er nicht befugt war, in alten Geheimnissen herumzustochern.
Das Problem war nur, dass sich eben dieses alte Geheimnis ganz von selbst in seine Ermittlung im Falle Hensley einzumischen schien. Und er hatte schon vor langer Zeit gelernt, Abschweifungen
nicht zu ignorieren, solange er nicht sicher war, dass sie mit dem eigentlichen Thema nichts zu tun hatten.
Sein nächster Schritt musste darin bestehen, nach Letherington zu fahren, um sich mit Inspector Cain
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