Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman
Beispiel, dass er schrecklich gern Süßigkeiten aß und wie er seine Verwundeten anschrie, sie sollten sich bloß hüten, während seiner Wache zu sterben, und wie sehr er die Maschinengewehrschützen hasste …
Rutledge zwang sich, in die Gegenwart zurückzukehren, und fragte: »Und Sie haben mich kein zweites Mal gesehen?« Wenige Monate später war er nämlich selbst dort eingeliefert worden, weil er unter Schützengrabenneurose und Klaustrophobie litt und kaum noch am Leben war. Hamishs Leiche hatte für einen winzigen Lufteinschluss gesorgt, der es Rutledge ermöglicht hatte, lange genug zu atmen, bis er gerade noch rechtzeitig aus dem Granattrichter ausgegraben und halb bewusstlos zu den Ärzten getragen worden war. Sie hatten ihn zusammengeflickt und ihn nach wenigen Stunden Ruhe und einem kräftigen Schluck Whiskey wieder an die Front geschickt.
»Nein.« Sie fügte nicht hinzu, dass sie anschließend noch Neuigkeiten über ihn erfahren hatte.
»Sie würden sich als Polizist gut machen«, sagte er, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben.
Sie lachte, ein kehliges Lachen, das herzlich und voller Humor war. »Polizisten sind doch gewiss nicht die einzigen Menschen, die die menschliche Natur begreifen. Ein guter Geistlicher muss sich darauf verstehen und ein guter Arzt ebenfalls. Warum
sollte jemand, der bloß eine Frau ist, nicht dieselbe Gabe besitzen?«
Er lächelte sie an. »Ich habe Sie nie als ›bloß eine Frau‹ angesehen. Aber Sie setzen Ihre Gaben auf unerwartete Weise ein.«
»Ihre Intuition hat Sie hierhergeführt. Meine Intuition kann mich ebenfalls leiten.«
»Dann seien Sie doch so freundlich, mir zu sagen, woher diese Patronenhülsen stammen. Und warum ich sie auf Schritt und Tritt finde.« Es war eine Herausforderung.
Nach einem Moment sagte sie: »Darf ich sie noch mal sehen?« Diesmal nahm sie die Hülse und hielt sie kurz in der Hand, ohne sie anzusehen. Erst anschließend betrachtete sie das eingeritzte Muster.
»Waren die anderen genauso? Nichts als Reihen von Mohnblumen, vielleicht eine Erinnerung an die Toten in Frankreich?«
»Nein. Schauen Sie hierher. Sehen Sie dieses Gesicht oder diesen Schädel, der kaum zu erkennen ist? Er wird von Mal zu Mal auffälliger. Und in die letzte Hülse war überhaupt nichts eingeritzt.«
Sie drehte die Hülse in der Hand, fand den Schädel und nickte. »Vielleicht hatte derjenige, der diese Hülsen für Sie zurücklässt, nur drei mit Gravuren?«
Diese Möglichkeit hatte er noch nicht in Betracht gezogen.
»Wenn ich Ihnen sagen soll, was ich davon halte, müssen Sie sich darüber im Klaren sein, dass es sich um nichts weiter als eine bloße Vermutung handelt.«
»Das soll mir recht sein.«
»Jemand möchte Sie so leiden sehen, wie er selbst gelitten hat. Sie sollen sich verfolgt und gejagt fühlen. Und Sie sollen sich fürchten. Er will damit andeuten, dass Sie zu den Kriegstoten gehören sollten, statt lebendig in London …«
Mrs. Channing ließ ihren Satz unbeendet, als sie seinen Gesichtsausdruck sah.
»Diesen Gedanken hatten Sie selbst schon, stimmt’s?«
»Schon oft«, brachte er mühsam hervor. Aber er hatte ihr mit der ungeschminkten Wahrheit geantwortet und sich gleichzeitig zu seiner Interpretation der Gravuren auf den Hülsen bekannt.
»Sie müssen sich fragen, ob derjenige, der das tut, Sie - das heißt, Ian Rutledge - als sein Opfer auserkoren hat oder ob Sie sozusagen stellvertretend für andere gewählt worden sind. Im Gegensatz zu einer rein zufälligen Zielscheibe.«
Er begann sich in diesem eleganten, wohltuend feminin eingerichteten Zimmer klaustrophobisch zu fühlen. Hamish ließ in seinem Hinterkopf einen Schwall von erbosten Bemerkungen los. Und der Frau, die ihm gegenübersaß, war allzu deutlich bewusst, was er dachte. Und was er fühlte.
Rutledge stand auf. »Ich muss gehen, ich habe eine lange Fahrt vor mir.«
»Ja.« Sie unternahm keinen Versuch, ihn zum Bleiben zu überreden. Stattdessen folgte sie ihm zur Tür und reichte ihm seinen Hut und seinen Mantel.
»Sie waren mir eine große Hilfe«, sagte er zu ihr, weil er seine Grobheit wiedergutmachen wollte. »Ich danke Ihnen.«
»Ich habe Sie nur noch mehr verwirrt, Inspector«, antwortete sie kläglich. »Das tut mir leid.«
Sie schloss die Tür hinter ihm, als er noch auf dem Gehweg zum Gartentor war.
Beim Einsteigen durchsuchte er sorgfältig das Automobil, denn er rechnete damit, dort eine weitere Hülse vorzufinden. Wenn ihm jemand nach
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