Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman
ob Mrs. Melford wohl zu Hause war und ihm aus dem Weg ging oder ob sie ausgegangen war.
Er hatte das zweite Sandwich zur Hälfte verspeist, als an die Haustür geklopft wurde. Rutledge zögerte, denn er wollte niemandem öffnen, wenn Barbara Melford nicht zu Hause war. Dann ging die Tür auf und eine männliche Stimme rief: »Barbara, bist du da?«
Der Mann kam in den Flur und dann auf dem Weg zur Küche ins Esszimmer. Er stolperte fast über seine eigenen Füße, als er Rutledge sah.
Es war Ted Baylor. Seine Stiefel waren geputzt, sein Haar frisch gebürstet und er trug eine andere Hose als am Morgen.
»Guten Tag«, sagte Rutledge und verbarg ein Lächeln. Baylor war restlos durcheinander und wusste anfangs nicht recht, was er sagen sollte, wie ein Mann auf Freiersfüßen, der auf seinen Rivalen stößt.
»Ich wusste gar nicht, dass Sie hier zum Mittagessen eingeladen sind«, brachte er schließlich hervor.
Hamish sagte: »Dieser Mann ist sehr besitzergreifend.«
Rutledge wählte seine Worte mit Sorgfalt. »Mrs. Melford hat mir das freundliche Angebot gemacht, die Mahlzeiten für mich zuzubereiten. Ich übernachte in Hensleys Haus, und seine Küche lässt viel zu wünschen übrig.«
»Dann ist sie also da?« Baylor sah sich im Zimmer um, als rechnete er damit, dass sie sich hinter einem der Möbelstücke verbarg.
»Ich habe sie nicht gesehen. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, auf sie zu warten …«
Einen Moment lang stand Ted Baylor da und wägte seine Möglichkeiten ab.
»Na, dann eben nicht«, sagte er schließlich und dachte nach.
Die Haustür wurde zugeschlagen. Hamish bemerkte trocken: »Der wird seinen Mut kein zweites Mal zusammenraffen! Glaube mir, der kommt so schnell nicht wieder.«
Rutledge antwortete: »Da könntest du recht haben. Vermutlich sollte ich ihr nicht erzählen, dass sie Baylor verpasst hat.«
Er aß sein Sandwich und die Apfelscheiben auf und trug dann die leeren Teller und seine Tasse in die Küche.
Jetzt war er derjenige, der überrascht auf der Schwelle stehen blieb.
Mrs. Melford saß an ihrem Küchentisch, hatte sich die Hände vors Gesicht geschlagen und weinte.
»Entschuldigung«, begann er und wusste nicht recht, was er mit dem Geschirr anfangen sollte.
Sie blickte zu ihm auf. »Warum konnten Sie nicht im Esszimmer bleiben, wo Sie hingehören?« Ihre Stimme war erbittert und anklagend, als sei er vorsätzlich in die Küche gekommen, mit der böswilligen Absicht, sie in Verlegenheit zu bringen.
»Ich dachte, Sie seien ausgegangen.« Er stellte das Geschirr
neben das Spülbecken und wandte sich ab, um zu gehen. »Kann ich irgendetwas für Sie tun?«, fragte er besorgt.
»Nein! Doch! Sie können fortgehen und mich allein lassen.«
»Sowie Sie mir beteuert haben, dass Ihnen nichts fehlt.«
Sie holte tief Atem und griff nach einem Geschirrtuch, um sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. »Es ist nichts weiter. Oder zumindest nichts, was Sie wieder in Ordnung bringen könnten. So ein Pech.«
Hamish mischte sich ein: »Dir ist doch klar, dass sie die Stimme des Mannes gehört hat. Aber du warst da. Du warst im Weg, und deshalb ist er nicht in die Küche gegangen.«
Rutledge war nicht seiner Meinung. Es steckte mehr hinter ihrem Elend als ein geplantes Rendezvous, aus dem nichts geworden war. Wenn es nur das gewesen wäre, hätte sie aus der Küche kommen und Baylor ins Wohnzimmer führen können, wo sie außer Hörweite waren.
Er fühlte sich hilflos und war unsicher, ob es das Beste war, sie ungestört weinen zu lassen, oder ob er nicht doch versuchen sollte, sie zu trösten. Da sich Wut in ihre Tränen mischte, beschloss er, es sei besser, sie allein zu lassen.
Nach kurzem Zögern ging er zur Tür und streckte die Hand danach aus, um sie zu öffnen.
Sie richtete ihre Worte an seinen Rücken: »Manchmal verstehe ich nicht, wie ein Mann einer Frau sagen kann, er liebt sie mehr als sein Leben - und dann einfach fortgehen und sie in dem Glauben zurücklassen kann, dass er ein Lügner ist.«
Er blieb mit dem Gesicht zur Tür stehen und sagte, ohne sich zu ihr umzudrehen: »Hat er Ihnen Aussichten gemacht?«
»Während des Krieges hat er mir geschrieben. Er hat gesagt, wenn er den Krieg überleben würde, wollte er mich heiraten. Ich hatte meinen Ehemann bereits ein Jahr nach der Hochzeit verloren, 1912. Ted und ich kannten einander schon seit unserer Kindheit, und ich mochte ihn. Ich habe ihm gesagt, ich würde auf ihn warten und da sein, wenn er nach Hause
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