Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman
kommt.
Und er war tatsächlich einer der Glücklichen. Er hat überlebt. Am Tag seiner Rückkehr nach Dudlington fühle ich mich wieder wie zwanzig, so aufgeregt wie ein junges Mädchen. Sie können sich nicht vorstellen, wie mir zumute war. Doch er ist am Haus vorbeigelaufen, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen, ich habe es selbst gesehen. Und dann hat er sich auf seine Farm zurückgezogen, sich abgeschottet und nie mehr ein Wort mit mir geredet. Weder damals noch später. Ich konnte doch nicht einfach bei ihm anklopfen und ihn fragen, warum. Schließlich hatte auch ich meinen Stolz.«
»Warum ist er heute hergekommen? Nach all der Zeit?«
»Wer weiß? Ich habe keine Ahnung. Begegnet sind wir uns natürlich - dieses Dorf ist zu klein, da lässt es sich nicht vermeiden, dass man einander in der Kirche oder in den Geschäften über den Weg läuft. Wir nicken zur Begrüßung, wechseln aber kein Wort miteinander. Ich habe meinen Stolz«, wiederholte sie, diesmal jedoch mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich denke gar nicht daran, mir anmerken zu lassen, dass es mich getroffen hat. Und jetzt ist es zu spät, um den Schaden zu beheben. Ganz gleich, was ich gefühlt habe - ich empfinde nichts mehr für ihn.« Ihre Stimme brach wieder.
Rutledge stand da und wartete. Aber sie hatte alles gesagt, was sie zu sagen hatte. Er stieß die Tür auf und ließ sie allein in der Küche zurück.
Als er zum Abendessen kam, rechnete er damit, die Tür verschlossen vorzufinden, doch sie war offen und seine Mahlzeit stand auf der Anrichte bereit. Mrs. Melford ließ sich nicht blicken. Und beim Frühstück am Tag darauf auch nicht.
Am nächsten Morgen brachte die Post Rutledge ein Päckchen. Die Handschrift war ihm nicht vertraut, doch sie wirkte elegant und schwungvoll.
Inspector Ian Rutledge. Dudlington, Northamts.
Kein Absender.
Er öffnete das kleine Schächtelchen und fand darin, in ein zusammengefaltetes Blatt Papier eingeschlagen, die Patronenhülse, die er versehentlich bei Mrs. Channing liegen gelassen hatte.
Auf dem Blatt stand eine Nachricht.
Ich habe mich bei Miss Rutledge nach Ihrem derzeitigen Aufenthaltsort erkundigt, und sie hat diese Anschrift für mich herausgefunden. Das haben Sie bei mir vergessen und mir ist nicht wohl dabei, es im Haus zu haben. Ich weiß selbst nicht, warum, schließlich ist es nichts weiter als eine Metallhülse. Aber je länger ich sie betrachte, desto unbehaglicher ist mir zumute. Sie hat in gewisser Weise etwas Heimtückisches an sich. Ich hätte sie gern in den Abfalleimer geworfen, um sie loszuwerden. Da es jedoch nicht meine Angelegenheit ist, über einen Gegenstand zu verfügen, der mir nicht gehört, gebe ich ihn hiermit zurück.
Er konnte ihre leise, angenehme Stimme hören, als er die Worte las, und einen Moment lang konnte er sie an dem kleinen Schreibpult aus Walnusswurzelholz in ihrem Salon sitzen und den Brief schreiben sehen. Es überraschte ihn, wie lebhaft er dieses Bild vor sich sah.
Er legte den Brief zur Seite und sah sich die Hülse noch einmal genau an.
Wieder fragte er sich, ob der Schuss auf der Landstraße nach Hertford dazu gedacht gewesen war, ihn zu töten. Oder hatte er ihm nur Angst einjagen sollen?
Hamish sagte: »Wenn dieser Schuss dazu gedacht gewesen wäre, dich zu töten, warum hätte der Schütze dann die drei Patronenhülsen in der Hecke zurücklassen sollen?«
Weil, dachte Rutledge, der Schütze auf alle Eventualitäten vorbereitet war. Das wiederum hieß, dass ihn der Ausgang nicht wirklich interessiert hatte. Rutledge hatte den Brief gerade erst zusammengefaltet und die Patronenhülse in seine Tasche gesteckt, als zaghaft an die Tür geklopft wurde und eine junge
Frau auf der Schwelle stand. Ihre Haltung erweckte den Eindruck, als könnte sie jeden Moment einen Rückzieher machen. Er schätzte ihr Alter auf sechzehn.
»Kommen Sie herein«, sagte Rutledge. Er nannte ihr seinen Namen und ging um den Schreibtisch herum, damit sie sich freier bewegen konnte.
Sie trat schüchtern ein und sah sich in Hensleys Büro um, während sie sich als Martha Simpson vorstellte.
Sie ist noch nie zuvor in Hensleys Haus gewesen, dachte er. »Bitte.« Er deutete auf den Stuhl, der ihm auf der anderen Seite des Schreibtischs gegenüberstand.
»Entschuldigen Sie die Störung, aber ich habe gehört, wie meine Mutter einer Freundin erzählt hat, Sie hätten Fragen nach Emma gestellt …«
Was hatte der Pfarrer über Klatsch gesagt?
»Ja, das
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