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Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman

Titel: Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Todd Ursula Gnade
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den Mut aufgebracht, diese Strapazen auf sich zu nehmen, und das nur um der geringen Chance willen, von dort aus zu sehen, wohin Hensley gegangen war?
    Rutledge ließ das Fernglas sinken und an dem Lederriemen um seinen Hals baumeln, während er rückwärts die Leiter hinunterstieg. Das Licht reichte gerade noch aus, um zu sehen, wohin er trat, ohne seine Taschenlampe zu Hilfe nehmen zu müssen, aber in dieser Höhe waren die räumlichen Verhältnisse ziemlich beengt und er begann zu spüren, wie stark der Druck der Klaustrophobie auf ihm lastete. Ein Nagel, der weiter herausragte als die anderen, verfing sich in seinem Mantel und riss an ihm. Er konnte sich mühelos befreien, aber das Gefühl, das Gleichgewicht zu verlieren, nahm stetig zu.
    Er holte tief Atem, um ruhiger zu werden, und dann stieg er ein paar weitere Sprossen hinunter.
    Himmel, das war wirklich gefährlich! Und direkt hinter ihm - und das machte es ihm unmöglich, nach unten zu blicken - war Hamish …
    Er setzte seinen Abstieg fort und erreichte endlich das untere Fensterpaar. Einen Moment lang blieb er stehen, um auf das Dorf zu blicken, eine Miniaturausgabe, ein Kinderspielzeug. Als sähe man es von einem Flugzeug aus, dachte er, während er auf die schmalen Schluchten schaute, die die Straßen waren, und die Schornsteinkappen von Häusern, die er kannte. Die näheren Häuser hatten ihm ihre Gärten zugewandt, wo Schuppen mit Werkzeug und anderen Gerätschaften standen und Wäscheleinen kreuz und quer über den verfügbaren Platz gespannt waren, um ihn möglichst gut zu nutzen.
    Ein Kinderfahrrad lehnte in einem der Gärten an den Stufen hinter dem Haus und in einem anderen war ein Mann zu erkennen, der einen riesigen Kohlkopf aus dem Kohlenkeller holte,
wo er eingelagert gewesen war. Ein Wagen kam in Sicht, als er von einem der Geschäfte losfuhr. Das Schieferdach des Pfarrhauses war mit Moos bewachsen, und er konnte ins Schlafzimmer des Pfarrers schauen und das Fußende des Bettes und die Kante einer Tür durch die offenen Vorhänge sehen.
    Er sah sich gerade eingehend das Haus der Baylors hinter dem Pfarrhaus an, als er bemerkte, dass im obersten Stockwerk jemand an einem Fenster stand und ihn gebannt anzustarren schien.
    Es war ein Schock, denn in diesem dichten Kokon aus Holz hatte er sich unsichtbar gefühlt. Die Frage war jetzt, ob die Gestalt am Fenster ihn tatsächlich sehen konnte oder ob sie nur auf die Kirche hinausschaute.
    Rutledge hob den Feldstecher an seine Augen, doch es war ihm unmöglich, durch die Fensterscheibe Einzelheiten zu erkennen. Ein dunkler, unregelmäßiger Umriss, aber eindeutig menschlich. Er hätte ihn vollständig übersehen, wenn die Gestalt sich nicht bewegt und damit seine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hätte. Und doch schien er die Intensität zu spüren, mit der er betrachtet wurde.
    Handelte es sich um bloße Neugier oder war es etwas Unheimlicheres?
    Andererseits war die Sonne gerade hinter den Wolken hervorgekommen und fiel jetzt durch die schmale Öffnung neben ihm. Sie schien auf die Leiter, auf der er stand, und warf ihr Licht auf seine rechte Schulter. Er saß hier fest, schutzlos ausgeliefert, und der lange Abstieg wurde ihm von Hamish blockiert, der direkt unter ihm war. Er fühlte sich wie in einem finsteren Schlund gefangen.
    Aber das war Unsinn. Alles, was eine Bedrohung für ihn darstellte, wäre von außerhalb gekommen, nicht aus Dudlington und schon gar nicht aus einem Haus, dessen Besitzer er kannte.
    Er versuchte, das Gefühl von Gehetztheit abzuschütteln, das ihm jetzt zu schaffen machte, und konzentrierte sich stattdessen
darauf, wohin er seine Füße setzte, als er sich nach unten vortastete. Er verspürte Erleichterung, als er endlich den Schallring der Glocke und die richtige Treppe erreicht hatte. Wenn ihm die Stufen beim Aufstieg auch noch so rudimentär erschienen waren, dann kamen sie ihm jetzt robuster und sicherer vor als diese scheußliche Leiter. Er streckte die Hand aus, um kurz die Glocke zu berühren und seine Finger auf das eiskalte Metall zu legen. Und aus diesem Blickwinkel bemerkte er zum ersten Mal den Mechanismus, der die Glocke mit der Uhr verband.
    »Horch!«, warnte ihn Hamish von weiter unten, und er sah, dass sich die Vorrichtung zu bewegen begann.
    Die Uhr würde jeden Moment schlagen, und er stand direkt neben der Glocke.
    Er vergeudete keine Zeit, sondern stieg die nächsten Stufen so schnell hinunter, wie er es nur irgend wagte, erreichte die letzte Treppe

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