Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman
bekehren. Beweismaterial, das dazu dienen sollte, die Schuld ihres Mannes zu widerlegen.
»Ihre Fälle lassen Sie nicht los«, bemerkte Meredith Channing, als sei sie seinem Gedankengang gefolgt.
Er kehrte schleunigst in die Gegenwart zurück und rief sich vor Augen, mit wem er sprach.
Als sie auf die Lichter des Oaks zugingen, erhaschte er in der Dunkelheit einen Blick auf ihr Gesicht. Sie wirkte distanziert und in sich gekehrt. Wie viel wusste sie wirklich über das, womit er sich herumschlug?
War sie ein Feind? Oder ein Freund?
Rutledge verabschiedete sich an der Tür des Gasthauses von Mrs. Channing.
Als sie die Treppe hinaufstieg, über der ein Kronleuchter im Facettenschliff hing, konnte er Stimmen hören, die aus der Bar zu ihm drangen. Sie sprachen über den Zwischenfall mit dem gestohlenen Laster. Er lauschte einen Moment, weil er gespannt darauf war, wie die Leute diesen Vorfall beurteilten.
Jemand sagte gerade: »... besser, wenn wir den los wären. Ich habe gehört, man erzählt sich, dass der sich gar nicht dafür interessiert, was dem Constable zugestoßen ist, das ist für den nur ein Vorwand, um seine Nase in andere Angelegenheiten zu stecken.«
»Was für andere Angelegenheiten?«, fragte eine zweite Stimme. »Hier gibt es doch keine Geheimnisse.«
»Ich für meinen Teil«, mischte sich eine dritte Stimme ein, »wüsste gern die Wahrheit über Baylors Bruder. Es heißt, er sei so vernarbt, dass er Angst hat, sein Gesicht auf der Straße zu zeigen.«
»Das ist doch lächerlich«, gab die zweite Stimme zurück.
»Hast du ihn denn schon gesehen?«, fragte ein anderer.
»Nein, aber …«
»Also, wenn ihr mich fragt, liegt er im Sterben. Gas in der Lunge, hat meine Frau beim Gemüsehändler gehört.«
»Ted spricht nicht darüber.«
»Nein. Er hat schon einen Bruder verloren, er will nicht auch noch den anderen verlieren.«
»Von den beiden«, warf die erste Stimme ein, »wäre mir Robbie allemal lieber als Joel. Robbie war ein braver Mann.«
Das stieß auf allgemeine Zustimmung, und dann scharrten Stühle auf dem Boden.
Leute brachen auf. Rutledge wandte sich ab, um ebenfalls zu gehen, bevor ihn jemand beim Lauschen ertappte.
Als er gerade die Hand nach dem Türgriff ausstreckte, fiel sein Blick zufällig noch einmal auf die Treppe.
Auf dem oberen Treppenabsatz, in ihrem burgunderfarbenen Mantel kaum zu sehen, stand Mrs. Channing. Ihr Gesicht war ein bleiches Oval, als sie die Treppe hinunterblickte und ihm direkt in die Augen sah.
Er ging, ohne ihr zu erkennen zu geben, dass er ihre Anwesenheit wahrgenommen hatte.
Rutledge fand sein Abendessen auf dem Tisch in Hensleys unbehaglichem Esszimmer vor.
Es war noch warm, und er setzte sich behutsam, um zu essen.
Sein Knöchel schmerzte teuflisch, und ihm wurde klar, dass es ein Fehler gewesen war, durch die kalte Nachtluft zum Gasthaus und zurück zu laufen. Aber Mrs. Channing hatte etwas von heißem Wasser auf dem Herd gesagt.
Als er seine Mahlzeit beendet hatte, trug er das Geschirr in die Küche und drehte das Licht höher.
Der Teekessel stand noch auf dem Herd. Er hielt eine Hand über den Ausguss und stellte fest, dass sich der Inhalt noch nicht abgekühlt hatte.
Er goss Wasser in eine Schüssel, die er unter dem Spülbecken fand, und setzte sich, um seine Schuhe auszuziehen. Der Strumpf ließ sich nur mit Mühe über seinen rechten Fuß streifen, und er sah seinen verfärbten Knöchel angewidert an.
Als er seinen Fuß in das Wasser stellte, spürte er, wie die Wärme in seinem Bein nach oben stieg, und die klaffende Wunde an seiner Wade begann zu brennen. Er achtete nicht weiter darauf und lehnte seinen Kopf zurück. Es dauerte nicht lange, bis er spürte, dass er am Einnicken war.
Es war ein langer Tag gewesen, dachte er. Und er war noch nicht zu Ende.
»Horch!«, sagte Hamish.
Er hob den Kopf.
Aus dem Esszimmer drang ein Geräusch.
Er rief: »Mrs. Melford? Das Geschirr ist hier, in der Küche.«
Sie antwortete ihm nicht, und sie kam auch nicht in die Küche.
Nach einem Moment stand er unbeholfen auf und ließ eine nasse Spur zurück, als er ins Esszimmer humpelte.
Dort war niemand.
Einbildung, dachte er. Oder hatte er gerade begonnen zu träumen?
Aber Hamish gab sich mit dieser Erklärung nicht zufrieden, und Rutledge sah sich ein zweites Mal um.
Jetzt sah er, was auf seinem Stuhl lag.
Eine Patronenhülse.
Er hob sie auf. Keine Einritzungen. Lediglich eine Erinnerung daran, dass er wehrlos ausgeliefert
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