Zeit der Sternschnuppen
zu animieren. Unaufgefordert nahmen sie an meiner Seite und mir gegenüber Platz. Der Bursche mit der Flasche tätschelte Waldi. Am liebsten wäre ich ausgestiegen.
Eine Station war vergangen. Plötzlich hallte eine Stimme durch den Bus. Sie war so laut, daß alle Gespräche verstummten. Sogar Waldi hob den Kopf und lauschte.
Die Stimme aber kam aus meiner Rocktasche und sagte: »Hans, du Lieber, ich habe alles gut verstanden. Du hattest vergessen, daß mich deine Worte erst nach vierzig Minuten erreichen können, meine Antwort kommt mit der gleichen Verzögerung. Verzeih mir, mein Geliebter, wenn ich während deines Rückfluges schwieg. Ich wollte nicht, daß du meine verweinte Stimme hörtest. Wie schade, daß mir eure Atmosphäre die Sicht nimmt, ich hätte dich sonst bei der Landung beobachten können. Ach, mein Weltraumreisender, wie leid tut es mir, daß du so frierst – wir haben beide nicht an die Jahreszeit gedacht. Wirst du jetzt Schlitten fahren und einen Schneemann bauen? Vom Vater soll ich dich herzlich grüßen. Er erwartet deine Rückkehr genauso sehnlich wie ich. Auch muß ich dir noch sagen, daß wir jetzt das Alter eurer Milchstraße genau kennen. Ich werde es dir erklären, wenn du zurück bist. Komm bald, mein Erdung, ich sehne mich nach dir. Ich schalte nun um, mein Gerät steht auf Empfang…«
Ihre unerwartete Antwort, sosehr sie mich auch mit Freude erfüllte, brachte mich in eine peinliche Situation. Einige Fahrgäste lachten, hielten die Stimme in meiner Rocktasche für einen besonders gelungenen Silvesterscherz, während die angetrunkenen jungen Burschen ein Transistorradio bei mir vermuteten. Sie erkundigten sich nach dem komischen Sender, wollten Musik hören. Ich konnte mich ihrer Zudringlichkeit kaum erwehren. Einer ahmte Auls Stimme nach, flötete: »Ach, komm doch, mein Erdling, wir wollen zusammen einen Schneemann bauen, mein Gerät steht schon auf Empfang…«
Ich atmete auf, als sie eine Station später den Bus verließen. Wie dumm, nicht daran zu denken, daß sich auf diese Entfernung keine richtige Unterhaltung führen ließ. Ich hätte es wissen müssen und mit Aul eine entsprechende Zeit für ihre Antwort vereinbaren sollen. Nun wartete sie für die nächsten Stunden vergebens, denn weder im Bus noch in der S-Bahn konnte ich ihr antworten.
Ich war in Ostkreuz ausgestiegen, ging mit gemischten Gefühlen durch die belebten Straßen. Bei Waldi ließ die Wirkung des Konzentrats nach, er knurrte und schnupperte, suchte nach Freßbarem, nahm sogar mit dem Schnee vorlieb. Auch bei mir konnte es nicht mehr lange dauern, bis sich der Hunger einstellte. Hoffentlich fand sich im Kühlschrank Schokoladenpudding.
Das Feuerwerk in der Stadt war längst beendet, trotzdem stiegen hier und dort noch einige Leuchtkugeln auf. Noch nie war ich Silvester so nüchtern durch die Straßen gegangen. Ich war froh, das alles noch einmal sehen zu können, zum letzten Male. Viele Fenster waren noch erleuchtet, Tanzmusik kam aus den Häusern; die Stadt war hellwach. An einer Litfaßsäule blieb ich stehen und betrachtete im Licht der Straßenlaternen die Plakate. »Die Welt von morgen« war nicht dabei; viel Schrift, wenig graphische Darstellung, von einem Knochengerippe abgesehen, das vor Tabakgenuß warnen sollte. Eine Konzertankündigung verriet, daß vor vier Stunden die Neunte gespielt worden war und daß heute vormittag in der Marienkirche ein Orgelkonzert gegeben wurde.
Die auf mich zukommenden Probleme ließen mir keine Zeit für weitere Studien der Ankündigungen und Bekanntmachungen. Es war nicht mehr weit bis zu meiner Wohnung. Immer wieder bewegten sich nun meine Gedanken um die gleiche Frage: Wie konnte ich meiner Frau meine Abwesenheit plausibel machen? Es blieb wohl kein anderer Weg als die Lüge. Ich mußte mir eine Freundin andichten, ein Mädchen, mit dem ich die letzten Monate in irgendeinem Kaff verbracht hatte. Genaugenommen war dies nicht einmal die Unwahrheit, der sechste Mond verdiente das Prädikat »Kaff«, und eine Geliebte ließ sich auch nicht verleugnen. Aber es war sinnlos, die Dinge wahrheitsgemäß zu schildern. Anderseits mußte ich Johanna auf meine erneute und endgültige Abreise vorbereiten. Es tat mir leid, daß ich mich mit einen Lüge, von ihr verabschieden mußte. Während mich unser Wiedersehen pausenlos beschäftigte, kam Theos Wohnung in Sicht. Schon von weitem war die erleuchtete Fensterfront zu sehen. Ich hatte nicht die Absicht, zu ihm hinaufzugehen. Was
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