Zeit für mich und Zeit für dich
dorthin begleiten. »Aber komm vorher nach Hause und zieh dir was Anständiges an, nicht diese Jeans, in denen du immer rumläufst.«
Ich konnte es nicht fassen und wusste nicht, was ich sagen sollte. Immerhin war es ihre Mutter, ich wollte sie nicht allzu offen kritisieren.
»Vielleicht gehe ich besser mit«, meinte Lucia, »sonst darf ich am Ende die ganze Woche nicht mehr raus.«
»Okay, ich fahr dich.«
Ich brachte sie nach Hause, damit sie sich umziehen und auf ein Fest gehen konnte, zu dem ich sie nicht begleiten durfte. Den ganzen Weg über sagte ich kein Wort. Zu Hause setzte ich mir die Kopfhörer auf und legte Pearl von Janis Joplin auf. Ich brauchte jetzt diese Stimme voller Schmerz.
Ich dachte an Lucia. Daran, dass sie vielleicht einen anderen kennenlernen und mich verlassen würde. Zum ersten Mal empfand ich so etwas wie Eifersucht.
Ein paar Tage später klingelte in der Bar das Telefon, und zum Glück war ich es, der dranging.
»Hallo?«
»Hier ist die Mutter von Lucia.«
»Guten Tag, Signora. Hier spricht Lorenzo.«
»Gib mir deine Eltern, ich muss mit ihnen sprechen.«
[89] »Ich bin volljährig, Signora. Wenn Sie etwas sagen möchten, können Sie es ebenso gut mir sagen.«
»Also gut, dann sag ich’s eben dir. Ich möchte nicht, dass du Lucia noch mal abholst oder dass sie zu dir kommt. Du wirst nicht mehr mit ihr ausgehen und sie auch nicht anrufen. Vergiss sie und lass sie in Frieden. Hab ich mich klar ausgedrückt?«
»Aber Signora, ich verstehe nicht, warum –«
Klick. Sie hatte einfach aufgelegt.
Ich ging ins Bad, sah in den Spiegel und empfand Mitleid mit mir selbst, mit meinem Leben.
Durch Lucia hatten meine Tage einen Sinn bekommen.
Ich verstand nicht, warum das Leben so ungerecht war. Warum kam ich so unter die Räder? Ich war ein fleißiger, wohlerzogener Junge, der immer nett zu allen war und hart arbeitete. Mehr als andere Jungs in meinem Alter, mehr als meine Freunde: Die gingen zur Schule, und wenn sie dort rausflogen, schickten die Eltern sie auf irgendeine Privatschule, wo sie, gegen entsprechende Bezahlung, statt zwei Jahren nur eines machen mussten und garantiert nicht durchfielen. Sie fuhren die Motorräder, die ich gern gefahren, trugen die Kleidung, die ich gern getragen, besaßen die Häuser, die ich gern besessen hätte, sie machten an den Orten Urlaub, an die ich gern gereist wäre. Ich dagegen wurde ständig gedemütigt. Ich begann zu glauben, dass die Welt mich einfach nicht wollte, vielleicht wollte mich nicht einmal Gott. Dabei hatte ich in Manzonis Brautleuten doch gelesen: »Gott trübt niemals die Freude seiner Kinder, [90] es sei denn, um ihnen eine noch größere und gewissere zu bereiten.« Vielleicht sagten Bücher auch nicht immer die Wahrheit. Ich wollte ja keinen Orden für meine Anstrengungen, ich wollte nur wissen, warum es niemals genug war, egal, was ich im Leben tat.
Vielleicht hatte ihre Mutter nicht mal unrecht. Von manchen Dingen in meinem Leben wusste Lucia noch gar nichts. Sie wusste nichts von den im letzten Moment bezahlten Wechseln, von den Problemen mit den Banken. Das hatte ich ihr nie erzählt. Einiges wird sie wohl geahnt haben, aber es schien sie nicht weiter zu kümmern.
Eines Samstags fragte mich mein Vater, ob ich noch ein bisschen Geld hätte. Er müsse einen Vertreter bezahlen, ich könne es mir abends wieder aus der Kasse nehmen. Ich antwortete, dass ich da erst nachschauen müsse. In Wahrheit hatte ich das Geld, weil ich an dem Abend eigentlich Lucia zum Essen und hinterher ins Kino einladen wollte, doch schließlich gab ich es ihm. Kurz vor Feierabend kam dann noch ein Vertreter, der sein Geld bekommen musste, denn mein Vater hatte ihn schon dreimal vertröstet. Kurz gesagt, mir blieb kein Geld mehr, um Lucia auszuführen. »Du hast es versprochen«, sagte ich zu meinem Vater, aber er antwortete bloß: »Es tut mir leid. Du kriegst es am Montag.«
Ich schloss mich in meinem Zimmer ein und heulte. Dann rief ich Lucia an und sagte ihr, ich hätte Fieber.
Vielleicht hatte ihre Mutter recht, ihr zu verbieten, mit mir zusammen zu sein.
Aber ich liebte sie, liebte sie so sehr.
[91] Später erzählte ich Lucia von dem Anruf. Sie fing an zu weinen und entschuldigte sich. Wir gingen weiter zusammen aus und hofften, früher oder später werde ihre Mutter den Feldzug gegen mich aufgeben.
Einmal, als ich vor Lucias Haus stand und auf sie wartete, trat ihre Mutter auf den Balkon und schrie herunter: »Habe ich mich
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