Zeit für mich und Zeit für dich
drückten keine Teilnahme aus.
Instinktiv legte ich noch einmal die Hand auf das Bein meines Vaters, doch wieder fehlte mir der Mut, mich ihm zuzuwenden und ihm ins Gesicht zu sehen.
Ich würde ihn verlieren. Endgültig diesmal.
Kurz vorm Sterben ziehe das ganze Leben an einem vorbei, heißt es. In diesem Fall zogen an meinem geistigen Auge eine Reihe von Bildern vorbei, obwohl er es doch war, der sterben würde: ich als Kind mit ihm, ich als Erwachsener mit ihm, meine Mutter…
»Aber zum Glück«, fuhr der Arzt fort, »haben sich keine Metastasen gebildet.«
»Was bedeutet das?«
»Dass Sie Glück haben. Zufällig sind Sie rechtzeitig zur Kontrolluntersuchung gekommen und können es mit der Krankheit aufnehmen. Ein paar Monate später nur hätte die Sache vermutlich schon ganz anders ausgesehen, womöglich wäre es dann schon aussichtslos gewesen. Bei der Biopsie hat sich herausgestellt, dass es sich, wie ich Ihnen bereits erläutert habe, um ein Adenokarzinom handelt, das aber noch keine Metastasen gebildet hat.«
[242] »Und was folgt daraus?«, fragte ich. Ich wollte klare, eindeutige Antworten.
»Er muss operiert werden. Ich gebe Ihnen den Befund nicht zu lesen, wegen der Terminologie würden Sie vermutlich ohnehin nicht viel verstehen. Ich sage Ihnen nur, dass er operiert werden muss.«
»Aber Lebensgefahr besteht nicht, oder?«, fragte ich, erpicht auf eine explizite Entwarnung, ohne Fachbegriffe.
»Nein, es besteht keine Lebensgefahr.«
Ich sah meinen Vater an und klopfte ihm wie einem alten Freund auf die Schulter. Ich war überglücklich. Von einer Sekunde auf die andere sah alles wieder rosig aus.
»Danke, Herr Doktor.« Als wäre es sein Verdienst, als wäre er dafür verantwortlich, als wäre er Gott.
Dann stellte mein Vater eine Reihe von Fragen: »Wann muss ich operiert werden? Nehmen Sie mir die Lunge raus? Ist die Operation gefährlich? Brauche ich eine Chemotherapie oder Bestrahlungen? Werde ich an eine Sauerstoffflasche angeschlossen, und muss ich die dann ein Leben lang mit mir rumtragen?«
Der Arzt unterbrach ihn. »Lassen Sie mich Ihre Fragen einzeln beantworten. Noch einmal, es handelt sich um ein Adenokarzinom ohne Metastasen. Sie müssen zwar operiert werden, aber wir müssen nicht die ganze Lunge entfernen, sondern nur ein kleines Stück; die Operation ist nicht gefährlich. Sie brauchen weder Chemotherapie noch Bestrahlungen und Sauerstoff auch nicht. Nur ein bisschen Ruhe, danach kommt alles wieder in Ordnung.«
[243] Möglichst unauffällig lehnte ich mich zurück und seufzte erleichtert auf. Bevor wir gingen, schüttelten wir dem Arzt die Hand. Mit der Sprechstundenhilfe vereinbarte ich die nächsten Termine. Beim Rausgehen sah ich mir die wartenden Menschen auf dem Flur an und wünschte diesen Unbekannten, dass sie auch so eine gute Nachricht bekämen wie wir.
Wir gingen in die Cafeteria, um einen Kaffee zu trinken. Mein Vater nahm auch ein Croissant, und während er hineinbiss, sagte er zu mir: »Ruf deine Mutter an.«
Ich rief sie an und sagte ihr, dass Papa außer Gefahr sei, zwar müsse er operiert werden, aber die Operation sei nicht kompliziert.
»Willst du selbst mit ihr sprechen?«, fragte ich meinen Vater. Aber der kämpfte gerade mit der tropfenden Marmeladenfüllung und schüttelte nur den Kopf.
Wir blieben eine Weile sitzen, als müssten wir uns von einer großen Anstrengung erholen. Ich sah meinen Vater an und stellte fest, dass er nicht mehr derselbe war. Ich hatte einen neuen Vater geschenkt bekommen. Gerade als ich hatte befürchten müssen, ihn zu verlieren, hatte ich ihn wiedergefunden – da war er. Und mit ihm die wiedergewonnene Zeit. Zeit, die ich zum ersten Mal bewusst wahrnahm und die mir plötzlich in all ihrer Kostbarkeit vor Augen stand. Die plötzlich doppelt zählte, weil ich geglaubt hatte, sie nicht mehr zu haben, weil sie endgültig verloren schien. Von der ich geglaubt hatte, sie sei kurz und unermesslich zugleich. In diesem Augenblick hatte ich den Wunsch, mich nicht länger durchs Leben treiben zu lassen, und ich begriff, dass ich auch mit ihr [244] keine Zeit mehr verschwenden durfte. Zwei Jahre hatte ich ungenutzt verstreichen lassen: eine Ewigkeit. Zwei Jahre lang hatte ich unzählige Empfindungen verpasst, die ich nie wieder nachholen konnte. Zahllose Gelegenheiten, mit meinem Vater und mit ihr, die ich leichtfertig ausgeschlagen hatte. Diese Zeit hätte ich gern zurückgehabt.
»Ist dir bewusst, wie sehr es auf den
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