Zeit, gehört zu werden (German Edition)
wahrscheinlich weitere fünfzehn Jahre im Gefängnis erwarteten. »Ich glaube, du solltest dich schuldig bekennen«, riet sie mir eines Tages, »denn das mindert dein Urteil um Jahre.«
»Ich werde nicht lügen!«, brüllte ich und spuckte jedes Wort einzeln aus. »Ich habe keine Angst vor Guede oder dem Staatsanwalt! Ich bin bereit zu kämpfen! Ich weiß nichts über diesen Mord, und man wird mich freisprechen!«
Luciano und Carlo versuchten mir den Rücken zu stärken, denn sie wussten, was am Ende passieren würde.
»Sie müssen darauf vorbereitet sein, dass dieser Fall vor Gericht kommt«, sagte Carlo, den Finger über dem Mousepad seines Laptops. »Die Staatsanwaltschaft wird Behauptungen gegen Sie aufstellen. Sie werden alle entsetzlichen Details über den Mord an Meredith zu sehen und zu hören bekommen. Das wird hart werden für Sie, Amanda.«
Mit diesen Worten drehte er seinen Computer zu mir um. Er scrollte nach unten. Auf dem Bildschirm tauchte Merediths Gesicht auf, nach oben gerichtet, gelblich und mit weit aufgerissenen Augen. Eine groteske, dunkle, klaffende Schnittwunde schien förmlich aus ihrem Hals hervorzubrechen.
Ah …! Ich schnappte nach Luft und wandte mich ab. Feuer breitete sich auf meinen Wangen aus und brannte mir in den Augen. Ich hatte das Gefühl, zu ersticken.
Carlo erhob sich ein wenig und sagte: »Amanda, beruhigen Sie sich.«
Mühsam versuchte ich durchzuatmen, brachte jedoch nur schmerzhaften Schluckauf hervor. »Ich kann nicht!«
»Wir sollten Schluss machen«, sagte er und stand auf. Er klopfte an die Tür. »Assistente!«
Ich konnte nicht aufhören zu heulen.
Carlo half mir vom Stuhl. Er legte die Hand sacht auf meinen Rücken, als die Wärterin die Tür öffnete.
»Es ist ein harter Tag«, erklärte er.
Die Wärterin packte mich fest an den Schultern und steuerte mich um die Ecke, fast in die ispettore hinein – die Dienstvorgesetzte –, die den Flur entlangkam.
»Was ist los mit Ihnen? Was ist passiert?«, fragte sie.
»Ich habe Merediths Autopsiefotos gesehen.«
»Was?«
»Merediths Autopsiefotos«, murmelte ich.
Die ispettore schaute mich verwirrt an. »Aber Sie haben sie doch schon tot gesehen!«
Ich wollte mich aus dem Griff der Wärterin befreien. Die Dienstvorgesetzte dachte offenbar, ich hätte Meredith umgebracht. Das dachten alle.
Ich wollte zurück in meine Zelle, um allein zu sein. Alle sollten aufhören, mich anzuschauen. Ich wollte atmen. Merediths Gesicht ging mir nicht aus dem Kopf – völlig ausdruckslos, der grau-gelbliche Farbton ihrer Haut, das dunkle, lebhafte Rot der Wunde. Mit den Bildern, die ich gerade gesehen hatte, konnte ich die Meredith, die ich gekannt hatte, nicht zusammenbringen.
Statt mich in meine Zelle zu bringen, führte die Wärterin mich in die Krankenstation und wies mich an, vor dem diensthabenden Arzt Platz zu nehmen.
»Was ist passiert?«, fragte er und beugte sich vor.
»Merediths Autopsiefotos«, antwortete ich. Meine Hysterie war in Schniefen übergegangen. »Ich habe sie gerade zum ersten Mal gesehen.«
»Ich kann Ihnen ein Beruhigungsmittel verschreiben.«
»Nein. Bitte, ich möchte einfach nur wieder in meine Zelle.«
Er schwieg einen Moment und wechselte dann einen Blick mit der Wärterin. »Wie Sie wollen«, sagte er.
22
Juli–September 2008
A lles – und nichts – veränderte sich an dem Morgen Ende Juni, als ich nach unten gerufen wurde, um wieder ein Dokument zu unterzeichnen. Der Wärter hob kaum den Blick, während er mir den Papierkram zuschob und auf die Zeile deutete, die auf meine Unterschrift wartete. Als ich fertig war, reichte er mir die letzte Kopie aus dem Stapel. Ich erkannte Migninis unleserliches Gekrakel und Matteinis schwungvolle Schrift, in der das M für mich immer wie ein W aussah. Watteini.
Erst als ich wieder oben war und auf meinem Bett saß, las ich:
ABSCHLUSSBERICHT ÜBER DIE
VORLÄUFIGEN ERMITTLUNGEN
Die Staatsanwälte Dr. Giuliano Mignini und Dr. Manuela Comodi;
Betreffend die Dokumente in der Strafsache, angezeigt im Epigraph, registriert am 6.11.2007 gegen:
KNOX, Amanda Marie, geboren in Seattle (im Staat Washington, USA) am 9.7.1987 … derzeit inhaftiert in der Casa Circondariale Capanne von Perugia;
SOLLECITO, Raffaele, geboren in Bari am 26.3.1984 … derzeit inhaftiert in der Casa Circondariale von Terni;
GUEDE, Rudy Hermann, geboren in Agou (Elfenbeinküste) am 25.12.1986 … derzeit in Haft in der Casa Circondariale von Perugia.
Die Staatsanwaltschaft
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