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Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Titel: Zeit, gehört zu werden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Knox
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Zeugenstand hatte Marco Chiacchiera von der squadra mobile ausgesagt, »investigative Intuition« habe ihn zu dem Messer geführt. Diese dürftige Erklärung half mir nicht zu verstehen, wieso die Polizei aufs Geratewohl ein Messer aus Raffaeles Küchenschublade nehmen und zu der Überzeugung gelangen konnte, dies sei ohne jeden Zweifel die Mordwaffe. Oder weshalb sie nie Messer aus der Villa oder aus Rudy Guedes Wohnung untersucht hatte.
    Dann hörten wir, wie die von der Anklage bezahlten forensischen Experten das Messer als »nicht unvereinbar« mit Merediths Wunden bezeichneten. Nicht nur ich war verwirrt. Die Fachleute diskutierten über die Bedeutung dieser Formulierung genauso ausführlich wie über die vorgelegten Sachbeweise.
    »›Nicht unvereinbar‹?«, fragte Carlo, als er den Zeugen vernahm. »Was soll das eigentlich heißen? Wenn das Messer zur Wunde passen würde, hätten Sie es dann genauso ausgedrückt? Sie hätten sich kein Bein ausgerissen und Worte verdreht, um so eine Wischiwaschi-Formulierung zu erfinden. ›Nicht unvereinbar‹? Soll ich das vielleicht so verstehen, dass das beschlagnahmte Messer allein schon deshalb ›nicht unvereinbar‹ ist, weil es ein spitzes, einschneidiges Messer ist? Soll ich es so verstehen, dass Sie jedes spitze, einschneidige Messer – also die meisten Messer – ebenso als ›nicht unvereinbar‹ mit Merediths Wunden bezeichnen würden? Ja?«
    »Ja«, antwortete der Experte.
    Während der nachmittäglichen Anhörung stellte sich heraus, dass Raffaeles Messer in Wahrheit nicht mit Merediths Wunden vereinbar war. Die Klinge war so breit, dass ihr die beiden kleineren Wunden damit nicht zugefügt worden sein konnten.
    Die dritte, tödliche Verletzung war eine klaffende Wunde im Hals. Der Pathologe sagte, Meredith sei mindestens dreimal an derselben Stelle gestochen worden. Aber die Klinge von Raffaeles Küchenmesser war mit ihren 17,5 Zentimetern länger, als die Wunde tief war – um mehr als 9 Zentimeter. Befragt von Carlo, erklärte Professor Torre, ein ernster Mann in den Sechzigern, der Brillen mit limonengrünen Gläsern bevorzugte, es sei höchst unwahrscheinlich, dass ein Mörder in einem Moment mörderischer Raserei ein Messer nur halb hineinstoßen würde, nämlich genau 7,998 Zentimeter tief. Und aus unwahrscheinlich werde unmöglich, wenn man das Messer dreimal hintereinander genau gleich tief hineintreiben wolle, messbar bis auf einen Tausendstel Zentimeter. Torre brachte eine Styroporbüste und eine exakte Kopie des Messers mit, um zu zeigen, wie unwahrscheinlich dieses Kunststück wäre. Ich fand, das war eine gute Idee, aber ich konnte nicht mit ansehen, wie jemand auf etwas einstach, und sei es bloß ein Dummy. Dass jemand glaubte, ich könnte einem Menschen – meiner Freundin – so etwas antun, machte mich nicht nur todunglücklich, sondern verursachte mir Brechreiz. Ich kniff die Augen fest zu.
    Wie bei der Vorführung von Merediths Mageninhalt durch die Anklage schloss der Richter auch jetzt die Presse und die Öffentlichkeit aus, damit Fotos von Merediths Wunden auf eine ausziehbare Leinwand projiziert werden konnten. Es waren dieselben zutiefst verstörenden Autopsiebilder, die Carlo mir vor siebzehn Monaten gezeigt hatte. Ich wusste schon damals, dass ich es nicht ertragen würde, sie mir noch einmal anzusehen.
    Das bewahrte mich davor, den Blick zu heben.
    Aber den Ton konnte ich nicht ausblenden. Dr. Torre sagte, am oberen Ende der tödlichen Wunde sei ein Kratzer. Der Druck habe gerade gereicht, um die Haut zu ritzen, erklärte er und fügte hinzu, dass der Kratzer vom Griff des Messers stammte. Das war nur möglich, wenn die Klinge in voller Länge in Merediths Hals eingedrungen war. Ein weiterer Beweis, dass Raffaeles Messer nicht die Mordwaffe sein konnte.
    Am nächsten Verhandlungstag rauschte Manuela Comodi, die beim Prozess für die Forensik zuständige stellvertretende Staatsanwältin, triumphierend mit einer flachen Pappschachtel in den Gerichtssaal, die etwas kleiner war als die Verpackungen beim Pizza-Service. Sie öffnete die Schachtel und stolzierte vor der Richterbank umher, als würde sie die Juwelen der Queen vorzeigen. Der Stolz stand ihr ins Gesicht geschrieben, als die Schöffen und Experten aufstanden und angestrengt in ihre Richtung starrten, um den Inhalt der Schachtel in Augenschein nehmen zu können: das in Raffaeles Wohnung beschlagnahmte Messer in einem Plastikbeutel. Nur Comodi durfte es berühren, in die Hand

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