Zeit, gehört zu werden (German Edition)
können wir nicht – dazu sind wir nicht befugt«, erklärte einer von ihnen.
Mittlerweile traten sich sechs Personen in dem winzigen Flur vor Merediths Zimmer auf die Füße, und alle redeten in lautem Italienisch durcheinander. Dann hörte ich, wie Luca mit donnerndem Krachen gegen die Tür trat. Er versetzte ihr ein, zwei, drei Tritte. Schließlich hielt das Schloss nicht mehr stand, und die Tür flog auf. Filomena schrie: »Un piede! Un piede!« – » Ein Fuß! Ein Fuß!«
Ein Fuß?, dachte ich. Ich verrenkte mir den Hals, aber wegen all der anderen Leute konnte ich nicht in Merediths Zimmer schauen. »Raffaele«, sagte ich – er stand neben mir –, »was ist los? Was ist los?«
Einer der Männer rief: »Sangue! Dio mio!« – »Blut! Mein Gott!«
Filomena schluchzte hysterisch. Es klang wild, animalisch.
»Alle raus aus dem Haus!«, donnerten die Polizisten. »Sofort!« Sie forderten Verstärkung an.
Raffaele packte mich an den Händen und zog mich zur Haustür. Ich schaute nicht in Merediths Zimmer hinein.
Während ich draußen auf der Vordertreppe saß, hörte ich jemanden rufen: »Armadio« – »Kleiderschrank«. Sie haben einen Fuß im Kleiderschrank gefunden, dachte ich. Dann: » Corpo!« – »Ein Körper!« Ein Körper im Kleiderschrank, und ein Fuß ragt heraus? Die Wörter wollten einfach keinen Sinn ergeben. »Meredith! Meredith! O Gott!«, jammerte Filomena immer wieder. »Meredith! O Gott!«
Mein Verstand arbeitete in Zeitlupe. Ich konnte weder schreien noch sprechen, sondern sagte nur immer wieder stumm zu mir selbst: Was ist da los? Was ist da los?
Erst im Lauf der nächsten Tage reimte ich mir Stück für Stück zusammen, was Filomena und die anderen von der offenen Tür aus gesehen hatten – einen nackten, blau verfärbten Fuß, der unter Merediths Steppdecke herausragte, Blutspritzer an den Wänden, Blutschlieren auf dem Fußboden.
Doch in jenem Moment, als ich draußen vor unserer Villa saß, hatte ich das Bild eines gesichtslosen Körpers im Kopf, der in den Kleiderschrank gestopft worden war, wobei ein Fuß herausragte. Ich hatte grausige Wörter gehört, aber sie hatten keinen Sinn ergeben.
Vielleicht war das der Grund, weshalb Filomena weinte und ich nicht. In diesem kurzen Augenblick hatte sie genug gesehen, um die schreckliche Tragweite der Geschehnisse zu erfassen. Für mich gab es nur Verwirrung und Wörter und – später – Fragen über Fragen nach Meredith und ihrem Leben in Perugia. Ich konnte nichts darüber sagen, wie ihr verwüsteter Körper ausgesehen hatte.
Doch trotz all dieser Einschränkungen war ich erschüttert – stand unter Schock, würde ich sagen. Während wir in der Auffahrt warteten – zwei Polizisten bewachten die Haustür –, klammerte ich mich an Raffaele. Mir schlotterten die Knie. Die Sonne schien, aber es war ein kalter Novembertag, und ich fror plötzlich. Da ich das Haus ohne meine Jacke verlassen hatte, zog Raffaele seine graue Jacke mit Kunstpelzfutter aus und hängte sie mir um.
Schubweise trafen Sanitäter, Ermittler und weiß gekleidete Leute von der Spurensicherung ein. Die Polizisten wollten uns nichts sagen, aber Luca und Paola blieben in ihrer Nähe und versuchten, von den Lippen zu lesen und mitzuhören. Luca erzählte Raffaele, was die Polizei gesagt hatte: »Dem Opfer wurde die Kehle durchgeschnitten.«
Erst in den Monaten unmittelbar vor meinem Prozess – und während des Prozesses selbst – erfuhr ich, wie sadistisch ihr Mörder gewesen war. Als die Polizisten eine Ecke der beigefarbenen Bettdecke angehoben hatten, sahen sie Meredith auf dem Boden liegen, von der Taille abwärts nackt. Blaue Flecken an den Armen und am Hals zeigten, dass sie um ihr Leben gekämpft hatte. Ihr BH war abgeschnitten und neben ihrem reglosen Leichnam liegen gelassen worden. Ihr dünnes Baumwoll-T-Shirt, nach oben gezogen, um die Brüste freizulegen, war blutverkrustet. Und am schlimmsten: Meredith war nach mehreren Stichen in den Hals an ihrem eigenen Blut erstickt. Sie starb in einer Blutlache, den Kopf zum Fenster gedreht, die braunen Augen offen.
In den ersten Stunden nach dem Eintreffen der Polizei, als ich dort vor der Villa stand, die der heitere Mittelpunkt meines Lebens in Perugia gewesen war – meine Zuflucht, Tausende von Meilen weit weg von zu Hause –, wusste ich gnädigerweise noch nichts von alledem. Langsam verdaute ich die bruchstückhafte Nachricht, dass Meredith tot war – und wies sie zugleich weit von mir.
Ich
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