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Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Titel: Zeit, gehört zu werden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Knox
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fühlte mich wie unter Wasser. Alle Bewegungen – meine eigenen und die der anderen – kamen mir schwerfällig, langsam, surreal vor. Ich wünschte mir mit aller Macht, dass die Polizei sich irrte. Ich wollte, dass Meredith die Auffahrt entlangkam, dass sie am Leben war. Konnte es nicht sein, dass sie die Nacht bei einer ihrer Freundinnen verbracht hatte? Oder früh aufgestanden war, um Freunde zu treffen? Ich klammerte mich an die nahezu aussichtslose Vorstellung, dass die Person in Merediths Zimmer irgendwie eine Fremde war.
    Nichts kam mir real vor, nur Raffaeles Arme, die mich stützten, die verhinderten, dass ich zusammenbrach. Ich hielt mich an ihm fest. Da ich das meiste von dem, was gesprochen wurde, nicht verstand, fühlte ich mich irgendwie losgelöst. Unter der enormen Belastung ließen meine Italienischkenntnisse nach. Es kam mir vor, als müsste ich jedes Wort, das ich aufschnappte und im Kopf übersetzte, durch eine dicke Watteschicht zerren.
    Ich war am Ende. Verzweifelt. Hin und wieder heulte ich matt in Raffaeles Sweater. Ich schluchzte niemals in Gegenwart anderer, hatte noch nie in der Öffentlichkeit geweint. Meine Mutter und Oma hatten mir beigebracht zu weinen, wenn ich allein war, und vielleicht fresse ich meine Gefühle ebenso in mich hinein wie sie. Das war eine unglückselige Eigenart in einem Land, in dem Gefühlsausbrüche nicht nur gang und gäbe sind, sondern auch erwartet werden.
    Raffaeles Stimme war ruhig und beruhigend. »Andrà tutto bene« – »Alles wird gut«, sagte er. Er zog mich enger an sich, strich mir übers Haar, tätschelte mir den Arm. Er sah mich an und küsste mich, und ich erwiderte den Kuss. Es waren keine romantischen oder leidenschaftlichen Küsse, wie viele später dachten. Sie spendeten mir Trost und gaben mir ein Gefühl der Sicherheit. Raffaele ließ mich wissen, dass ich nicht allein war. Ich fühlte mich an eine Zeit zurückerinnert, in der ich noch klein war und oft Albträume hatte. Meine Mutter hielt mich in den Armen, strich mir das Haar glatt und ließ mich wissen, dass ich in Sicherheit war. Irgendwie gelang es Raffaele in den schlimmsten Stunden meines Lebens, dasselbe zu tun.
    Später hieß es dann, unsere Küsse seien frivol gewesen – ein Beweis für unsere Schuld. Dass ich mein Gesicht an Raffaeles Brust gedrückt hatte, interpretierte man als Kuscheln. Unschuldige, so der Staatsanwalt und die Medien, wären derart am Boden zerstört gewesen, dass sie gar nicht mehr hätten aufhören können zu weinen.
    Wenn ich mir heute einen Clip davon anschaue, krampft sich mir der Magen zusammen. Ich werde von denselben schrecklichen Gefühlen gepackt wie an jenem Nachmittag. Ich kann mich nur so sehen, wie ich damals war: jung, voller Angst und trostbedürftig. Ich sehe, wie Raffaele mit seinen eigenen Empfindungen fertig zu werden versucht, während er sich bemüht, mir zu helfen.
    Wir warteten eine gefühlte Ewigkeit in dieser Auffahrt. Die Polizisten kamen heraus, stellten uns Fragen, gingen wieder hinein, kamen heraus und stellten weitere Fragen. Ich erzählte ihnen immer dasselbe: »Ich kam nach Hause. Die Tür war offen. Filomenas Zimmer wurde durchwühlt, aber anscheinend ist nichts gestohlen worden. Merediths Zimmer war verschlossen.«
    Es schien, als kämen die Worte woandersher, nicht aus meiner Kehle.
    Mitten in meinen tristen Grübeleien hatte ich einen schlichten und klaren Gedanken. »Wir müssen der Polizei sagen, dass in Filomenas und Lauras Toilette Kot war, als ich den Föhn weggehängt habe, und dass er fort war, als wir zurückgekommen sind«, erklärte ich Raffaele. Die Exkremente mussten vom Mörder stammen. War er dort gewesen, als ich geduscht hatte? Hätte er auch mich ermordet?
    Wir gingen zu einer Polizistin mit langen schwarzen Haaren und langen Fingernägeln – Monica Napoleoni, Leiterin der Mordkommission, wie ich später erfuhr. Raffaele schilderte ihr auf Italienisch, was ich gesehen hatte. Sie starrte mich an. »Sie wissen, dass wir das überprüfen werden, nicht wahr?«, sagte sie.
    »Deshalb erzähle ich es Ihnen ja«, sagte ich.
    Sie verschwand in der Villa, kam jedoch gleich darauf wieder heraus. »Die Exkremente sind noch da. Wovon reden Sie?«, blaffte sie mich an.
    Das verwirrte mich, aber ich sprach trotzdem weiter. Ich erzählte ihr, ich hätte den Mopp am Vormittag mitgenommen, ihn jedoch wieder zurückgebracht, als Raffaele und ich hergekommen seien, um nachzusehen, ob im Haus etwas gestohlen worden war.
    »Sie

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