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Zeit und Welt genug

Titel: Zeit und Welt genug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Kahn
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einen Pfeil ein. Josh tauchte die Feder in ein Pfützchen blutig-schmutzigen Urin, zog Papier aus dem an seinem Bein befestigten Röhrchen und begann zu schreiben.
    Jasmine lachte nicht ohne Mitgefühl.
    »O je, was für Narren sind diese Sterblichen«, sagte sie.
    Beauty blickte verärgert. Joshua ließ seinen Federkiel sinken.
    »Soll heißen?« fragte er.
    »Dass ihr plötzlich so ernst geworden seid«, meinte sie achselzuckend. »Der Zentaur macht ein Gesicht, als wollte er zum letzten Gefecht antreten, du schreibst einen Abschiedsbrief. Auf einmal sind alle so tiefsinnig.« Sie wirkte gereizt.
    »Was sollen wir denn tun?« fragte der Zentaur hilflos.
    »Nichts, gar nichts. Es gibt nichts zu tun. Wir sind hier, sie sind dort, wir müssen einfach abwarten. Es hat aber keinen Sinn, tiefsinnig zu werden. Wenn sie in unsere Richtung kommen, dann hören wir sie. Erst dann geht es los. Bis dahin erzähle ich lieber Geschichten, um die Zeit zu vertreiben.«
    »Geschichten?«
    »Ja. Kennt ihr eine gute?« Sie lächelte. »Geschichten über die Sterblichkeit mag ich am liebsten. Sie sind unterhaltend und lehrreich. Kennt einer von euch die Geschichte vom Treffpunkt Samarra?«
    »Ich finde, dass Geschichten vom Tod wenig unterhaltsam sein können für jemanden, der ihm so nah ist wie wir«, erklärte Beauty gemessen.
    »Im Gegenteil, Bruder Beauty«, widersprach Jasmine mit einem Augenzwinkern. »Distanz erzeugt Gleichgültigkeit, und Humor ist der Vater der Wahrheit. Wenn man über den Rachen seiner schrecklichsten Angst spaßen oder eine Geschichte erzählen kann, erfährt man am Ende vielleicht etwas über sein Gebiss.«
    »Leicht gesagt von einer Unsterblichen«, erwiderte der Zentaur. Was ihn beschäftigte, war nicht nur sein bevorstehender Tod, sondern auch der von Rose und Joshua.
    »Glaubst du das?« Jasmine zog die Brauen hoch.
    »Manche behaupten es.«
    »Wenn „Wörter nur wirklich so mächtig wären, wie die Schreiber gerne glauben …«, sagte sie. Josh hob den Kopf. Jasmine verstummte und sprach nach einer Pause weiter. »Nein, ich kann sterben – ihr habt mir gestern wirklich das Leben gerettet. Aber wenn ich auf natürliche Ursachen warte, wie immer sie aussehen mögen, kann es wohl tausend Jahre dauern …«
    »Warum machst du dir, wenn du so viele Jahre vor dir hast, nicht mehr Sorgen darüber, vorzeitig von JEGS getötet zu werden?« fragte Beauty. »Du solltest dich mehr fürchten als wir – du hast mehr zu verlieren.«
    Jasmine lehnte sich an die kühle Felswand.
    »Ich finde die Nähe zu meinen Ängsten lehrreich. Außerdem bin ich nicht mehr so sicher, dass das Leben wirklich wertvoll ist.«
    »Woher kommt es, dass Neuromenschen so lange leben?« fragte Joshua. Er hob den Wasserschlauch an den Mund, den Jasmine von der Quelle mitgebracht hatte.
    »Woher kommt das«, sagte Jasmine nachdenklich. »Tja. Die Geschichte ist nicht so unterhaltsam wie die vom Schnellen Thermonuklear-Krieg, auch nicht so lehrreich, aber die Zeit vergeht auch damit.« Sie rutschte am Boden entlang, bis sie zwischen ihnen saß, am Ende der Höhle.
    »Neurowesen waren einmal Menschen«, begann sie. »Nein, das ist wahr, ihr braucht nicht so erschreckt zu blicken. Als ich jung war, sah die Welt anders aus. Sie wurde von Menschen beherrscht, es gab Milliarden davon. Sie bekamen viele Kinder und stellten Armeen auf, bauten Häuser, die an den Wolken kratzten, führten sich überhaupt schrecklich auf und steuerten benzingetriebene Wagen über endlose, steinharte Straßen, die Tausende von Meilen weit reichten, durch Berge und unter Flüssen hindurchführten. Lebten in Riesenstädten, Millionen Menschen zusammengepfercht. Furchtbare Orte, aber aufregend. Die Leute erstickten im Gestank ihrer eigenen Maschinen. Man brachte einander um, weil einem nichts Besseres einfiel. Manche hassten die Hautfarbe anderer, manche bestimmte Körperteile, manche Gedanken; andere dachten überhaupt nicht. Fast jeder konnte lesen und schreiben. Nachts brannten so viele Lichter, dass man nie die Milchstraße sehen konnte. Ärzte nahmen aus manchen Menschen das Herz heraus und setzten es anderen ein. Wissenschaftler fotografierten Atome, sperrten Elektromagnetismus in Flaschen, machten sich an Genen zu schaffen, spähten bis zum Rand des Universums. Hypnose, Scientology, Gurus, transzendentales Bio-Feedback. Die Zivilisation verlor sich im Wahn.«
    Sie lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück und sah alles wieder vor sich. »Es war eine tolle Zeit

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