Zeit zu hassen, Zeit zu lieben
Gefängniszeit berufen.
Steiner hatte in diesen Tagen öfter Grund, über Bruno den Kopf zu schütteln. Irgendwie hat sich der Junge verändert, dachte er.
»Wir sollten diesen Schrank noch heute zusammenleimen, Padre, dann ist die Arbeit fertig«, sagte Steiner.
Bruno antwortete: »Es ist gleich vier Uhr, Meister.«
»Wäre aber doch gut, wenn wir dies noch zu Ende brächten. Morgen früh müssen wir mit dem Sarg für Frau Möhlenbrink in die Kolonie. Kannst du nicht zwei Stunden länger bleiben?«
Als Bruno sehr schnell Nein sagte, legte Steiner den Hobel aus der Hand und fragte ärgerlich: »Was ist eigentlich los mit dir, Bruno? Du bist in den letzten Tagen mit deinen Gedanken überall, nur nicht bei der Arbeit.«
»Ich …«, begann Bruno, aber er verstummte dann. Schließlich stieß er hervor: »Ich kann es nicht erklären, Meister, aber ich muss unbedingt pünktlich Feierabend machen. Es ist wichtig.«
Steiner brummte: »Was sein muss, muss sein. Bleibt mal wieder der Rest der Arbeit an mir allein hängen.«
Um Punkt vier Uhr verließ Bruno Steiners Werkstatt. Bis zu Dr. Herniedens Büro war es eine knappe Stunde Weg.
Gegen fünf Uhr stand er vor dem mit grauer Ölfarbe gestrichenen Haus, das mit seinem mächtigen Erker und einer reichen Stuckverzierung einen bedrohlichen Eindruck auf Bruno machte. »Rechtsanwalt Dr. Hernieden« stand auf einem blank geputzten Messingschild und darunter »Bürozeit bis 18 Uhr«.
Bruno atmete tief, durchquerte den schmalen Vorgarten und drückte die Schelle.
Eine schlanke Frau, in ein elegantes graues Kostüm gekleidet, fixierte ihn durch eine goldblinkende schmalrandige Brille und fragte sehr von oben herab: »Bitte schön?«
»Ich möchte den Rechtsanwalt sprechen.«
»Wir empfangen keine Bittsteller.«
»Ich wollte doch nur fragen …«
Sie wies ihn spöttisch ab. »Der Kindergarten ist zwei Straßen weiter«, sagte sie und schloss leise die Tür.
So leicht wollte Bruno sich nicht abschrecken lassen. Er ging auf die andere Straßenseite und wartete. Ein schwarzes Personenauto bog in die Straße ein. Der Chauffeur hielt vor Dr. Herniedens Haus, schaute auf die Uhr und schob sich die Mütze über die Augen.
Nach und nach verließen einige Frauen das Haus. Endlich trat ein Mann heraus. Er trug einen steifen Hut und einen dunklen Mantel mit einem Maulwurfsfellkragen. Der Chauffeur kletterte behände aus dem Wagen.
Bruno rannte über die Straße und sprach den Mann an. »Herr Dr. Hernieden, ich soll einen Gruß von Paul bestellen.«
Misstrauisch sah der Rechtsanwalt ihn an. »Paul?«, fragte er. »Welcher Paul? Ich kenne keinen Paul.«
»Na, der Paul Bienmann, der mit Ihnen in der Zelle gesessen hat.«
Dr. Hernieden stutzte, schmunzelte dann und sagte: »Ach, der Werftarbeiter, der Paul Bienmann. Der hat mir gezeigt, wie man Wanzen knackt. Er hatte einschlägige Erfahrungen.«
»Paul hat mir gesagt, Sie könnten mir einen Rat geben.«
»Ach?«
Der Chauffeur hatte inzwischen die hintere Tür des Wagens geöffnet. Der Rechtsanwalt blieb vor dem Auto stehen. »Ich habe sehr wenig Zeit. Ich muss vor sieben noch im Amtsgericht Nord sein. Aber wenn du es mit deiner Sache sehr eilig hast, dann steig ein und erzähle mir unterwegs deinen Fall.«
Bruno war noch nie mit einem Auto gefahren.
Der Chauffeur hielt ihm ebenfalls die Tür auf und verzog keine Miene dabei. Bruno setzte sich neben Dr. Hernieden auf den Rücksitz. Er vergaß vor Aufregung fast, was er eigentlich wollte.
»Nun, junger Mann, wo drückt der Schuh?«
Hastig berichtete Bruno, was sich ihm bis in die Nebensächlichkeiten hinein unauslöschlich eingeprägt hatte. »Er hat meinen Bruder erschossen«, wiederholte er mehrfach.
Der Rechtsanwalt fragte nach: »Und was willst du von mir wissen?«
»Wenn ich nun wüsste, wer der Mann ist, wo er sich aufhält, wenn ich das wüsste, was kann ich dann tun?«
Das Auto hielt vor dem roten Backsteingebäude. »Amtsgericht Nord« stand in großen Lettern über dem Eingang. Der Chauffeur wollte den Schlag aufreißen, aber Dr. Hernieden gab ihm ein Zeichen und bedeutete ihm zu warten. Er schwieg lange.
Bruno schaute ihn mit fiebrig glänzenden Augen an.
Endlich räusperte sich der Rechtsanwalt und sagte: »Junge, es tut mir leid, dass ich dir sagen muss, dass du nach meiner Einschätzung nicht viel tun kannst. Du kannst Strafanzeige erstatten, gewiss. Nach allem aber, was ich weiß, schilderst du etwas, was im Bürgerkrieg wieder und wieder vorgekommen
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