Zeitbombe Internet
teilweise gemeinsam mit ihren Müttern, Kleiderberge aufladen. Im Privatleben hat sie das selbst getan. Sie ist 50 Jahre alt, ihre Tochter ein Teenager. Dann betritt Yarrow den Laden und streunt umher wie eine Ethnologin durch ein Urwalddorf. Sie bleibt hier stehen und dort, befühlt einen Stoff, greift einen Gürtel. »Forever 21« stattet junge Frauen schon ab 20 Dollar mit T-Shirt, Hose, Gürtel und Kette aus. Bei solchen Preisen könnten sich viele Städter jeden Monat
neu einkleiden. Yarrow sagt dazu: »Diese Generation schätzt schnelle und häufige Kontakte mit Menschen wie mit Marken, auch weil ihre Aufmerksamkeitsspanne so gering ist. Gleichzeitig ist ihr Bedürfnis nach Stimulation sehr groÃ.«
Yarrows Beobachtungen ergänzen sich mit denen der Psychologen Jean M. Twenge und W. Keith Campbell. Die beiden sprechen davon, das eine Narzissmus-Epidemie vor allem die amerikanische, aber letztlich alle entwickelten Gesellschaften erfasst habe ( The Narcism Epidemic. Living in the Age of Entitlement ). Ausgangspunkt ihrer Ãberlegungen ist die Tatsache, dass amerikanische Kinder seit Jahrzehnten in der Schule darauf getrimmt werden, selbstbewusst zu sein. Für jede Leistung gibt es einen Pokal, für durchschnittliche Leistung immer noch eine Plakette. Die Autoren beschreiben eine Welt, für die sich statistisch nachweisen lässt, dass mehr Menschen überhöhte persönliche Ansprüche haben. Verstärkt werde diese Haltung nach Ansicht der Autoren durch den allgegenwärtigen Materialismus, billige Kredite, Kreditkarten, Reality-Fernsehshows, Schönheitschirurgie und den alltäglichen Star-Kult. So entsteht eine Welt, in der viele Menschen über ihre Verhältnisse leben, alles tun, um 30 Sekunden Ruhm zu ergattern â und meinen, das stünde ihnen zu.
Die technologische Entwicklung beschleunige nun diesen Trend weiter, argumentieren Twenge und Campbell. Denn in Sozialen Netzwerken gebe es den sozialen Druck, eine Dynamik, das eigene Ego aufzupusten und sich mit möglichst vielen Freunden und möglichst vielen, Aufmerksamkeit erregenden Taten und Nachrichten einen hohen sozialen Status in seiner Gruppe zu sichern. Der Narzisst sei vielfach der Normalo geworden.
In Sozialen Netzwerk schauen alle gleichermaÃen zu und entscheiden darüber, was sie von sich zeigen â wenn alle die Regeln einhalten. Wie Jose Antonio Vargas im amerikanischen Magazin New Yorker nach einer Tiefenrecherche über Facebook und seinen Gründer so treffend schrieb: »Zuckerbergs Geschäftsmodell hängt von unserer sich verändernden Haltung zu Privatsphäre, EntblöÃung und reiner Selbstdarstellung
ab.« Er kommt zu den gleichen Erkenntnissen wie die Psychologen Yarrow, Twenge und Campbell.
Wer sagt, dann sollen die Leute doch auf eine Mitgliedschaft verzichten, der hat die soziale Dynamik noch nicht ganz begriffen. Eine Untersuchung der gemeinnützigen Pew Foundation in Boston aus dem Frühjahr 2010 besagt, dass in den USA die 73 Prozent der Jugendlichen, die im Internet surfen, Mitglied in mindestens einem Sozialen Netzwerk sind. Bei den 17- bis 29-Jährigen sind es 72 Prozent â und von denen, die älter als 30 sind, inzwischen schon fast 40 Prozent. Was noch beeindruckender ist und die zentrale Rolle von Facebook an dieser Stelle begründet, ist die Tatsache, dass drei Viertel aller Amerikaner, die ein Soziales Netzwerk nutzen, eine Facebook-Mitgliedschaft besitzen. Gab es Anfang 2008 »nur« etwa 70 Millionen Mitglieder, ging es seither steil bergauf. Mehr als 150 Millionen Menschen sind allein im Jahr 2010 dazugekommen.
In Deutschland ist es zwar noch nicht ganz so weit. Aber auch hierzulande hat Facebook inzwischen mehr als 18 Millionen aktive Mitglieder.
Da werden die sozialen Kosten für diejenigen langsam hoch, die nicht bei Facebook sind, und an dieser Stelle geht es nicht mehr um die Attraktivität des Internetangebots allein. Es geht darum, dass man beinahe Mitglied werden muss, um nicht den Anschluss zu verlieren.
Facebook-Gründer Mark Zuckerberg sagte einmal über den Drang vieler Menschen, persönliche Dinge bei Facebook zu veröffentlichen: »Wir haben das nicht geschaffen â die Gesellschaft war bereit dafür. Ich denke, es ist lediglich Teil eines generellen Trends, die Gesellschaft wird offener, und ich denke, das ist gut.« Nein, man kann so einen Trend nicht schaffen, wohl aber
Weitere Kostenlose Bücher