Zeitbombe
Anstalt einen Mann, der über allen anderen stand. Er saß wegen verschiedener Delikte ein, vor allem Körperverletzung, einmal davon sogar mit Todesfolge. Herr Bornmann und er waren sich ein paarmal über den Weg gelaufen, und offensichtlich mochte dieser Albert Feist, so hieß er, ihn nicht. Feist, ein Kerl von zwei Metern Größe und fast ebenso breit, erpresste von den meisten der Mitgefangenen auf irgendeine Weise Geld, das wusste hier auch jeder, doch Bornmann war einer der wenigen, die sich weigerten zu zahlen. Deshalb wurde er einmal von dem Riesen, wie ihn hier alle nannten, ziemlich übel zugerichtet. Das hat er bei der Anstaltsleitung zur Anzeige gebracht, aber es hat sich niemand auch nur im Ansatz damit beschäftigt. In einer JVA gehört Gewalt, ob man es nun gut findet oder nicht, eben zur Tagesordnung. In diesem Fall jedoch hat sich leider die ganze Ohnmacht der Justiz gezeigt. Ein paar Wochen nach dem ersten Vorfall kam es zu einer weiteren Auseinandersetzung, in deren Verlauf Bornmann wieder viele Schläge hat einstecken müssen. Aber diesmal war er darauf vorbereitet gewesen und hat Feist, während der auf seinen Kopf eindrosch, einen Schraubenzieher mitten ins Herz geschoben. Ein kleiner, unscheinbarer Schraubenzieher, an der richtigen Stelle eingesetzt, hat gereicht.«
»Wir haben«, erklärte Lenz, »bereits von diesem Vorfall gehört, Herr Doktor, aber danke, dass Sie ihn uns noch einmal in dieser Ausführlichkeit geschildert haben. Wie ging es danach mit Bornmann weiter?«
»Er kam auf die Intensivstation und hat tagelang mit dem Tod gerungen, schlussendlich jedoch knapp überlebt. Was ihm jedoch den Prozess wie auch das daraus resultierende Urteil nicht erspart hat. Er wurde wegen Totschlags verurteilt.«
»Gab es niemanden, der die Sache beobachtet hatte? Keine Zeugen?«
Schamberg verzog müde das Gesicht.
»Wir sind hier im Knast, Herr Lenz. Sie können überzeugt davon sein, dass viele Häftlinge die Sache gesehen haben, aber dazu gesagt hat natürlich keiner etwas. Das macht man hier drinnen so, wenn man keinen Ärger haben will.«
»Was schließlich dazu geführt hat, dass Bornmann auch noch die nachträgliche Sicherungsverwahrung aufgebrummt bekommen hat.«
»Ja. Das auch noch. Aber für ihn mindestens ebenso tragisch war die Tatsache, dass er sich zunächst gar nicht an den Angriff von Feist und die Einzelheiten erinnern konnte. Das kam erst Wochen später wieder, und auch nicht komplett. Und je mehr an Erinnerung wiederkam, desto größer wurden seine körperlichen Ausfälle.«
Er holte tief Luft, sah die Polizisten betroffen an und ließ sich in seinen Sessel zurückgleiten.
»Dazu muss man wissen, dass Herr Bornmann bei der Attacke von Feist ein wirklich schweres Schädel-Hirn-Trauma davongetragen hatte. Das …«
»Moment, bitte«, ging Hain dazwischen, »Sie sagen, dass die körperlichen Ausfälle erst nach und nach aufgetreten sind? Könnte es sein, dass Bornmann sie nur vorgetäuscht hat?«
Der Gesichtsausdruck des Arztes wurde noch trauriger.
»Hat Ihnen irgendjemand so etwas erzählt?«
»Nein, warum?«
»Weil es vereinzelt Gerüchte über eine solche Vorgehensweise gab. Ich persönlich hatte zwar nie den Eindruck, dass Herr Bornmann seine Behinderung gespielt haben könnte, aber …«
Er stockte.
»Ja? Was – aber?«
»Einer der Aufseher will ihn angeblich einmal dabei beobachtet haben, wie er ohne irgendwelche körperlichen Einschränkungen Kniebeugen gemacht hat. Das würde darauf hinweisen, dass er simuliert, aber es wurde trotzdem nie weiter untersucht.«
»Wie kommt das?«
Nun verfinsterte sich der Gesichtsausdruck des Mediziners.
»Weil wir schon mit der regulären Arbeit nicht nachkommen, meine Herren. Weil wir seit Jahren weit jenseits der Grenze unserer Leistungsfähigkeit arbeiten müssen. Und weil sich scheinbar auch niemand dafür interessiert hat, ob Bornmann simuliert oder nicht. Der Mann war, spätestens, nachdem die Sicherungsverwahrung verhängt wurde, im Niemandsland des Strafvollzugs angekommen. Und in diesem Niemandsland gehen die Uhren nun einmal anders. Außerdem: Wem wäre geholfen gewesen, wenn wir ihm das Vortäuschen der Behinderung hätten nachweisen können?«
»Na ja«, wollte Lenz etwas dazu sagen, doch Schamberg schien es nicht wahrzunehmen.
»Und es gibt einen weiteren Punkt«, fuhr er deshalb fort, »und der ist für mich der ausschlaggebende, meine Herren. Es stand nämlich nicht zu erwarten, dass Rüdiger Bornmann
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