Zeitbombe
einfach nur die Seite des Tuchs hoch, die Richtung Tunnelwand weist.«
Über ihr Gesicht huschte die Andeutung eines Lächelns.
»Die andere Ecke anzuheben, würde ich Ihnen allerdings auf gar keinen Fall empfehlen.«
»Ich habe eigentlich nicht die Bohne Lust darauf, dieses verdammte Tuch auch nur einen einzigen Millimeter anzuheben«, meinte Hain eine knappe Minute später, als die Polizisten vor der hellen Kunststofffolie angekommen waren, unter dem ein Teil der Überreste des Toten verborgen war.
»Und ich hab keine Lust, dass du wieder den Bahndamm vollkotzt. Also gib mir die Taschenlampe und schau einfach Richtung Zug.«
»Das könnte dir so passen«, widersprach der Oberkommissar mit einer Vehemenz, die Lenz nicht erwartet hätte, reichte jedoch trotzdem die Taschenlampe weiter. »Dass ich mich dann wieder den ganzen Tag von dir als Weichei oder Pussy oder so was beschimpfen lassen muss. Nee, lass mal. Ich heb hoch, und du schaust nach, ob unser unseliger Verdacht stimmt.«
Lenz sah an seinem Kollegen vorbei und versuchte, einen Blick in den ICE hinter ihm zu erhaschen. Die Fenster waren allesamt verwaist und leer; offenbar hatte man glücklicherweise die Wagen, die der Fundstelle der Leiche am nächsten waren, geräumt.
»Dann mal los«, brummte der Hauptkommissar und schaltete die Lampe an.
Hain griff vorsichtig nach der linken oberen Ecke des Tuchs, umfasste es mit nach vorn gestrecktem Zeigefinger und Daumen und hob es langsam an. Lenz folgte seinen Bewegungen mit dem Lichtkegel und schwenkte schließlich nach rechts, wo er in das blutverschmierte, aber irgendwie glücklich aussehende Gesicht von Franz Zwick blickte.
»Ist gut, lass fallen.«
»Ist er es?«, wollte Hain wissen, während er die Folie wieder in die gleiche Position brachte wie bei ihrem Eintreffen.
»Komm, ich muss hier raus«, murmelte Lenz und setzte sich in Bewegung.
»Was ist denn nun?«, hakte sein Kollege nach, der stolpernd hinter ihm herlief.
»Er ist es«, war das Einzige, das Lenz herausbrachte.
*
»Die Identität des Toten ist geklärt«, informierte Hain Angelika Weber, die, über den anderen Leichenteil gebeugt, auf dem Schotter des Bahngleises kniete. Zum Glück für Hain und Lenz war es an der Stelle zu dunkel, um Genaueres erkennen zu können. »Es ist tatsächlich wieder ein Kollege von uns. Leider.«
»Klasse«, erwiderte sie emotionslos, »dann können Sie mir ja meine Taschenlampe zurückgeben.«
Der junge Kommissar kam ihrem Wunsch überaus zögerlich nach.
»Nur die Ruhe. Ich werde sie erst dann wieder anschalten und auf dieses Fragment hier richten, wenn Sie schon lange außer Sichtweite sind. Okay?«
»Ja, das wäre gut.«
»Kannten Sie ihn gut?«
»Er war unser Chef.«
»Hoho«, meinte Frau Weber mit einem warnenden Unterton in der Stimme, »dann würde ich Ihnen von nächtlichen Spaziergängen am Gleiskörper bis zur Aufklärung des Falles verschärft abraten.«
»Machen wir. Wann können wir die Ergebnisse der Obduktion haben?«
»Wenn alles glattgeht, schon heute Nachmittag. Wir wissen ja jetzt, wonach wir suchen müssen.«
Als die beiden Kasseler Polizisten den Ausgang erreicht hatten, stürmte Hartmut Bliesheimer, der Mitarbeiter der Deutschen Bahn AG, auf sie zu und wollte vermutlich gerade mit seinem Forderungskatalog zur Freigabe der Strecke loslegen, doch Lenz ließ ihn eiskalt auflaufen.
»Halten Sie einfach den Mund, Herr Bliesheimer. Erstens sind mein Kollege und ich hier leider nicht zuständig, und selbst wenn wir es wären, würde ich immer noch nicht mit Ihnen sprechen. Also, wenn Sie etwas wissen oder loswerden wollen …«, deutete er auf Werner Tenhagen, der mit ein paar Uniformierten zusammenstand und rauchte, »… wenden Sie sich vertrauensvoll an den Herrn dort drüben.«
»Aber der will doch …«, machte der Bahnmitarbeiter einen weiteren Versuch, wurde jedoch von einem einzigen, extrem bösen Blick des Beamten zum Schweigen gebracht.
»Wenn Sie wissen wollen, um wen es sich bei dem Toten handelt, Herr Tenhagen«, raunte Lenz dem Göttinger Kollegen im Vorübergehen zu, »schicken Sie mir einfach ein Fax mit einer Anfrage. Oder wenden Sie sich am besten gleich an die Pressestelle des PP Kassel, da hilft man Ihnen sicher gern.«
»Einen kleinen Moment bitte, Herr Lenz«, flötete der korpulente Mann mit einer nicht für möglich gehaltenen Freundlichkeit in der Stimme hinter ihm her, »vielleicht können wir die Sache ja abkürzen und …«
Damit hatte er
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