Zeiten des Verlangens
nach vorne blicken.«
Regina nickte. In Gedanken sah sie, wie er sie in der Zweiundvierzigsten Straße anblickte, erwartungsvoll und enttäuscht zugleich. An ein Nachvorneschauen zu denken war einfacher gewesen, solange sie ihm die Schuld gegeben hatte, solange sie sich in der Rolle der Gebenden sah und ihn als den Beziehungsunfähigen, der ihre Verbindung auf das rein Körperliche reduzieren wollte. Doch jetzt hatte er es versucht. In einem seltenen Moment der Unbeholfenheit hatte er ihr gezeigt, dass er sich bemühen würde, mehr zu geben. Jetzt war es an ihr zu erkennen, dass sie alles gegeben hatte, was in ihrer Macht stand. Und dass es nicht reichte, war eine schreckliche Erkenntnis. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um Carly das zu erklären. Also sagte sie nur: »Ich bin noch nicht so weit.«
Carlys Gesicht wurde weicher. »Okay, ich verstehe. Ich hab das auch gerade durchgemacht. Aber das nächste Mal kommst du mir nicht mehr so leicht davon. Ich sage Andy, dass wir es aufschieben.«
»Viel Spaß«, sagte Regina und atmete erleichtert auf, als Carly sie alleine ließ und die Tür hinter sich schloss.
Sie stellte ihre Handtasche auf den Boden, legte sich aufs Bett und drehte sich auf die Seite. Ihr Blick fiel auf das Bettie-Page-Buch auf der Kommode. Sie wollte es nicht mehr in ihrem Zimmer haben, wusste aber nicht wohin damit. Es einfach wegzuwerfen brachte sie nicht übers Herz. Vielleicht sollte sie es am nächsten Morgen an ein Antiquariat verkaufen?
Regina setzte sich auf. Sie würde es ins Wohnzimmer legen, in den Stapel von Carlys Zeitschriften, wo sie es nicht mehr sehen musste.
Sie lauschte an der Tür. In der Wohnung war es still. Sie vergewisserte sich noch ein paar Momente, ob Carly und Rob wirklich weg waren, dann nahm sie das Buch und ging ins Wohnzimmer.
Vielleicht sollte sie es doch noch heute Abend zum Antiquariat bringen, überlegte sie. Es war gerade mal sieben. Und was hatte sie sonst schon zu tun?
Sie setzte sich aufs Sofa und beschloss, das Buch ein letztes Mal durchzublättern. Es war wunderschön – und sie hatte nun mal eine Schwäche für schöne Bücher.
Regina blätterte bis zur Mitte, zu dem Kapitel mit den Fetisch- und Fessel-Bildern von Irvin Klaw. Sie erinnerte sich, was Sebastian in ihrer ersten Nacht in seiner Wohnung gesagt hatte: Dass Bettie etwas hatte, das den Mädchen auf seinen Fotografien fehlte – »Vergnügen«. Regina sah sich die Seite genauer an, die sie aufgeschlagen hatte. Bettie trug einen Bikini mit Leopardenmuster, ihre Arme und Beine waren in Ketten, durch ihren Mund ging ein Seil. Dennoch lachten ihre Augen. Sie sieht aus, als ob sie Spaß dabei hätte , hatte er gesagt. Doch Regina musste daran denken, wie man sich in Wirklichkeit in dieser Position fühlte – ausgeliefert, erotisiert, denn schließlich war es das Vorspiel zum Sex. Sie wusste nicht, wie Bettie sich davon loslösen konnte. Vielleicht war sie in ihrem wirklichen Sexleben nicht unterwürfig und schlüpfte nur für die Kamera in diese Rolle. Ihr »Vergnügen«, das Verspielte, sprach aus den Bildern, weil es eben nicht mehr für sie war: ein Spiel. Sie gab nichts von sich selbst preis, denn sie offenbarte der Kamera nichts Reales.
Regina blätterte zum nächsten Kapitel: Bettie in weißen Stiefeln mit erhobener Reitgerte. Bettie in einer schwarzen Lederkorsage und ellbogenlangen schwarzen Handschuhen kauerte bedrohlich über einer Frau in Spitzenunterwäsche, die gefesselt und geknebelt auf dem Rücken lag. Bettie in Strapsen, Strumpfhaltern und schwarzen kniehohen Plateauschuhen, die vorne geschnürt waren. Sie funkelte in die Kamera, als würde sie den Fotografen gleich zum Dessert verspeisen. Bettie mit geschwungener Peitsche.
Regina blickte auf. Adrenalin schoss durch ihre Blutbahnen.
Wir haben nicht all unsere Probleme gelöst , hatte Carly gesagt. Aber wir haben einen Weg gefunden, wie wir uns in der Mitte treffen können.
Und auf einmal wusste Regina, was sie zu tun hatte.
36
»Das ist eine ziemlich lange Einkaufsliste«, bemerkte Carly mit Blick auf das große, pinke Post-it, auf dem Regina seit Tagen herumgekritzelt hatte.
Es war Samstagmorgen. Regina musste daran denken, wie sie vor einer Woche mit Sebastian für den Bondage-Ball beim Einkaufen gewesen war – der Tag hatte so vielversprechend begonnen, doch am Ende hatte sie alles infrage gestellt.
Sie hoffte, dass sie diese Shoppingtour zu einer Antwort führen würde.
Regina folgte Carly in Richtung
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