Zeitenlos
was über mich gekommen ist«, sagte er.
Ich rührte mich nicht, unsicher, was ich darauf antworten sollte. Er sollte auf keinen Fall denken, dass sein forsches Verhalten mir nicht gefallen hatte. »Was ist los?«, fragte ich.
Er kämpfte mit sich und entschied sich für Offenheit. »Ich bin wahnsinnig erleichtert, dass du mich weiterhin sehen willst. Mir war wohl nicht klar, wie sehr ich mir das gewünscht hatte.«
Er hatte immer einen so beherrschten Eindruck gemacht, doch jetzt schien er tatsächlich emotional verletzlich. Ich fühlte mit ihm, weil es mir genauso ging.
»Ich weiß genau, was du meinst.«
Wes sah mich lange an. »Du bist wirklich unglaublich«, flüsterte er.
»Das bezweifle ich ganz ernsthaft«, versicherte ich ihm. Ich war vieles: anders, zurückhaltend, kreativ, unabhängig, neugierig, aber mit Sicherheit nicht unglaublich. Ganz bestimmt nicht.
»Doch, das bist du«, beharrte er.
»Du kennst mich nicht sehr gut«, warf ich ein.
»Ich kenne dich besser, als du denkst, und deshalb kann ich dir versichern, dass ›unglaublich‹ eine sehr präzise Beschreibung für dich ist.«
Ich studierte seinen Gesichtsausdruck. »Warum?«, fragte ich. »Weil du mir die haarsträubendste Geschichte der Welt erzählst hast und ich dich aus irgendeinem unerfindlichen Grund trotzdem nicht zum Teufel schicke?«
Er lachte. »Ja, das ist sicherlich ein wichtiger Grund.«
Dieses Eingeständnis erinnerte mich daran, dass wir einige sehr wichtige, nach wie vor ungelöste Dinge zu besprechen hatten. Es war nicht ganz einfach, einen klaren Kopf zu bewahren, während er hier in meinem Zimmer saß.
»Was mich daran erinnert, dass es da so einige Sachen gibt , die ich wissen will.«
»Das ist mir klar. Ich erzähle dir, was immer du wissen möchtest.«
Ich wollte ihn nicht ausquetschen. Vom ersten Tag an hatte ich seine Beweggründe und sogar seine pure Existenz hinterfragt. Diesmal wollte ich Antworten, ohne danach bohren zu müssen.
»Ich will dich nichts fragen, du sollst mir alles erzählen.«
Er wandte sich mir zu. »Wo soll ich anfangen?«
»Erzähl mir von deiner Familie und wie du letztendlich zu dem geworden bist, der du heute bist.«
Ich rutschte bis zum Kopfende hoch und legte zum Zeichen dafür, dass ich geduldig zuhören würde, den Kopf aufs Kissen. Er verstand den Hinweis und machte es sich am Fußende bequem. Dann stützte er sich auf einen Ellenbogen und sah mich intensiv an. Ich achtete darauf, dass mein Gesichtsausdruck entspannt und offen war. Wes begann mit seinem Rückblick, als wäre alles gerade erst geschehen.
»Ich bin am 12. Januar 1900 in London zur Welt gekommen«, begann er.
Ich gab mein Bestes, keinerlei Reaktion zu zeigen.
»Ich war der zweite Sohn meiner Eltern. Mein Bruder ist einige Jahre vorher gestorben. Er war zwei Jahre alt und Bluter. Meine Eltern wussten das nicht, bis er eines Tages stürzte und sich den Kopf ziemlich hart anschlug. Meine Mutter war tief erschüttert, sie konnte kaum darüber sprechen. Es stellte sich heraus, dass die Krankheit in ihrer Familie vererbt wurde, und als ich geboren wurde, befürchteten meine Eltern, dass ich sie auch hatte.«
Es war offensichtlich, dass die Erinnerungen für ihn sehr schmerzhaft waren.
»Bei ihrer Fürsorge hätte niemand vermutet, wie schlimm es um mich stand. Die meisten Kinder mit dieser Krankheit hätten nicht mal das Krabbelalter überlebt. Meine Mutter war eine erstaunliche Frau. Erst heute weiß ich, was sie alles geleistet hat.«
»Was ist mit deinem Vater?«, unterbrach ich ihn.
»Ich erinnere mich kaum an meinen Vater, aber er war nicht Weston der Zweite.« Er warf mir einen schnellen Blick zu, um sich zu versichern, dass ich das auch wirklich verstanden hatte. »Sein Name war Charles Weston. Er war meistens auf Reisen und starb, als ich drei war. Er hinterließ meiner Mutter eine nicht unerhebliche Summe, und sie investierte einiges davon, um in London eine Buchhandlung und ein Haus in einer Gegend zu kaufen, in der viele Mediziner ansässig waren, für den Fall, dass mir etwas zustieß.«
Während er erzählte, schaute ich ihn eindringlich an, und es dauerte nicht lange, bis ich ihn mir tatsächlich in London vorstellen konnte. Ich sah ihn in ähnlicher Kleidung vor mir wie auf dem Foto, das er mir gezeigt hatte. Sein Aussehen war damals genauso perfekt wie heute.
»Was ist mit dir passiert?«, fragte ich und konzentrierte mich wieder.
»Als ich ungefähr sechzehn war, hatte ich einen Unfall, der
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