Zeitenzauber - Völler, E: Zeitenzauber
Mauer herab. Falls Alvise und der Rest seiner Gang wieder über die Mauer steigen wollten, bevor ich zurück war, wären sie aufgeschmissen, aber das war nicht mein Problem.
Es war nicht leicht, mit wallendem Gewand die ganze Kletteraktion zu bewältigen und dabei auch noch auf das Windlicht aufzupassen, aber irgendwie kriegte ich es hin, ohne mir den Hals zu brechen, mein Kleid in Brand zu stecken oder jemanden auf mich aufmerksam zu machen.
Danach wurde es erst recht schwierig. Ich hatte kein Geld dabei und traute mich daher nicht, einfach in eine Gondel zu steigen. Vielleicht hätte ich es wagen können mit der Behauptung, ich würde am Ende der Fahrt schon zahlen. Aber was tat ich, wenn mir dort niemand die Tür aufmachte, etwa, weil Ruhetag war oder alle schliefen, oder wenn keiner mir Geld borgen würde?
Also ging ich zu Fuß, was wesentlich länger dauerte als die Gondelfahrt, da ich zuerst zur Rialtobrücke musste und danach quer durch San Polo. Die vielen Sackgassen und immer gleich aussehenden Häuserreihen erwiesen sich dabei als zusätzliches Hindernis. Ich verlief mich ständig, bis ich den Canal Grande wieder im Blick hatte, der einzige verlässliche Orientierungspunkt, weil es dort wegen der am Ufer brennenden Fackeln heller war als in den Gassen.
Als ich endlich das Kurtisanenhaus erreichte, war ich trotz der kühlen Nachtluft in Schweiß gebadet. Auf mein Klopfen hin wurde mir sofort geöffnet, von der Magd, die mir heute nach dem Aufstehen das Frühstück gebracht hatte.
Ich fragte nach Sebastiano und erfuhr zu meinem Verdruss, dass über seinen Verbleib nichts bekannt sei. Er sei gemeinsam mit dem Einäugigen noch bei Tageslicht zu einer Reise aufgebrochen, der Zeitpunkt der Rückkehr sei ungewiss.
Ich fragte nach Marietta, was blieb mir auch übrig? Vielleicht wusste sie mehr.
»Ihr wartet besser hier unten, während ich der Herrin Bescheid gebe«, sagte die Magd. »Oben wird gerade … hm, gefeiert.«
Ich konnte es mir in etwa vorstellen. Wahrscheinlich war es nicht jugendfrei.
Ungeduldig wartete ich im Innenhof, während die Magd Marietta holen ging. Aus dem Obergeschoss hörte ich Flötenmusik und Stimmengewirr, vereinzelt unterbrochen durch lautes Männerlachen und Gekicher von Frauen.
Marietta kam die Treppe herabgeschwebt wie eine Elfenkönigin. In fließende weiße Seide gehüllt und mit offenem Haar sah sie tatsächlich aus wie Arwen in Der Herr der Ringe .
»Du lieber Himmel«, sagte sie. »Was tust du denn hier, mitten in der Nacht? Wie hast du die Mauern des Klosters überwunden?«
»Ach, da hing zufällig eine Leiter … Weißt du, wann Sebastiano zurückkommt?«
»Das weiß niemand. Warum bist du hier?«
»Ich muss dringend mit ihm sprechen.«
»Er wird wütend sein, wenn er hört, dass du aus dem Kloster fortgelaufen bist. Er dachte, du seist dort sicher und geschützt untergebracht.«
»Na ja, geschützt ist was anderes«, sagte ich. »Eigentlich treiben sich da dieselben Kerle rum wie hier.«
»O weh«, sagte Marietta betroffen. »Wen hast du denn gesehen, der heute auch hier war? Warte, ich kann es mir denken. Die Malipiero-Brüder.«
Als ich nickte, schnalzte sie verärgert mit der Zunge. »Die beiden haben ihre Liebchen überall, bei den Kurtisanen ebenso wie bei den Nonnen. Ich hörte, Alvise hat sich eine junge Witwe angelacht, die als Gast im Kloster lebt.«
»Monna Dorotea. Sie ist meine Zimmergenossin. Er kam sie heute Nacht besuchen, zusammen mit seinem Bruder und noch einem Mann. Es sollte eine lustige Feier werden. Bevor sie richtig losging, bin ich verschwunden.«
Sie musterte mich neugierig. »Bist du darum ausgerissen? Weil es dir ungehörig vorkam?«
»Nein. Dieser Alvise sagte etwas, das Sebastiano unbedingt erfahren muss.«
»Nun, wie gesagt, er ist leider nicht hier und ich habe keine Ahnung, wann er zurückkommt.« Sie betrachtete mich fragend. »Worum geht es denn? Am besten erzählst du es einfach mir und ich sage es dann Sebastiano, sobald er eintrifft.«
Das war nach Lage der Dinge ein vernünftiger Vorschlag. Schließlich war sie eine gute alte Freundin von ihm. Andererseits … Vielleicht war sie nicht nur Sebastianos gute alte Freundin, sondern auch die der Gebrüder Malipiero. Schließlich waren sie hier Stammkunden.
Ich war hin- und hergerissen und hatte keine Ahnung, ob ich ihr trauen konnte. Schließlich siegte die Vorsicht.
»Ich sage es ihm lieber selbst.«
Ihr Lächeln fiel etwas bemüht aus. »Wie du willst. Sobald er
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