Zeitenzauber - Völler, E: Zeitenzauber
jenseits der Ozeane zu erschließen. Ich habe versucht, der Stimme der Vernunft Geltung zu verschaffen, doch niemand wollte mich anhören. Vielleicht kann ich noch eine Eingabe bei den Savi machen und eine Sondersitzung einberufen, sobald der Doge zurück ist. Ich werde mein Bestes geben.« Achselzuckend fügte er hinzu: »Alvise Malipieros Rede war in der Tat visionär und mitreißend. Er nannte es: Die Neue Welt erobern, bevor es andere tun.« Mit einem Kopfschütteln schloss er: »Diese Malipieros – sie sind über alle Maßen charismatisch. Allen voran der junge Alvise. Ah, da kommen sie. Sieger auf der ganzen Linie.«
In seinen verbitterten Gesichtsausdruck mischte sich ein Anflug widerwilliger Bewunderung, als die Malipieros inmitten einer Schar von Ratsherren in der Tür des Sitzungssaals erschienen. Die Anerkennung und die Begeisterung der Männer waren fast mit Händen zu greifen. Jeder wollte mit den Malipieros reden, ihnen auf die Schulter klopfen, Lob aussprechen, Fragen stellen. Die Aufmerksamkeit aller war ihnen gewiss.
Auch die unsere. Ich konnte nicht anders, als Alvise anzustarren, und als ich kurz zu Sebastiano hinübersah, bemerkte ich, dass es ihm ebenso erging.
Alvise zog die Blicke auf sich wie ein Magnet, während er zusammen mit seinem Vater und seinem Bruder in den Vorraum stolziert kam, umringt von beifällig lächelnden Politikern, die es kaum erwarten konnten, seine Pläne in die Tat umzusetzen. Weil sie ihm jedes einzelne Wort glaubten.
Alvise selbst glaubte ebenfalls daran, wie ich gleich darauf erkannte. Er glaubte an Venedig als weltbeherrschende Kolonialmacht mit solcher Inbrunst, dass er alles dafür tat und sogar über Leichen ging, wenn es sein musste. Wusste er denn nicht, dass seine ehrgeizigen Pläne letztlich zur völligen Vernichtung der Stadt führen würden?
Doch, beantwortete ich mir meine Frage im Stillen selbst. Natürlich wusste er es. Als Zeitreisender hatte er in den Spiegel gesehen. Dass er trotzdem so rücksichtslos seine Ziele verfolgte, ließ nur einen Schluss zu: Es war ihm absolut gleichgültig, was in hundert Jahren geschah. Ihn interessierte nur, was sich während seiner eigenen Lebenszeit abspielte, und da wäre er ein mächtiger Mann. Vielleicht sogar der mächtigste der Welt.
Einen Schritt vor der Treppe blieb er stehen und wandte sich noch einmal zu uns um. Obwohl wir im Hintergrund geblieben waren, hatte er uns gesehen.
Für einen Sekundenbruchteil trafen sich unsere Blicke. Seine Augen waren wie dunkles Eis. Sein Mund formte ein Wort, das ich so mühelos verstand, als hätte er es laut ausgerufen.
Bald!
»Bestimmt gelingt es Trevisan, das wieder rückgängig zu machen«, meinte ich tröstend, während ich gemeinsam mit Sebastiano die Treppen hinunterging. Trevisan hatte sich nach unserem kurzen Gespräch verabschiedet, weil dringende Geschäfte seiner harrten. »Immerhin lebt er noch, das ist die wichtigste Voraussetzung, alles noch hinzubiegen!«
Sebastiano erwiderte nichts auf meine hoffnungsvolle Bemerkung. Er war so geschwächt, dass er trotz meiner Hilfe Mühe hatte, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Als ihm klar geworden war, dass er zu spät kam, hatte ihm das sozusagen den Rest gegeben. Davor hatte er sich die ganze Zeit mit eiserner Willenskraft auf den Beinen gehalten, doch jetzt hatte er sämtliche Reserven verbraucht.
Ich hatte seinen Arm über meine Schultern gezogen, damit ich ihn besser stützen konnte, doch als wir endlich durch den Torbogen auf den Kai hinaustraten, vermochte ich ihn kaum noch aufrecht zu halten. Immer wieder wurde er von Hustenanfällen geschüttelt. Sein Gesicht war grau und eingefallen und sein Körper fühlte sich an meiner Seite an wie der reinste Backofen.
»Ich glaube, du hast richtig hohes Fieber«, sagte ich beunruhigt. »Und dieser Husten hört sich ziemlich schlimm an.«
Das schien ihn nicht zu stören. Etwas anderes bereitete ihm mehr Sorgen. »Auf dem Rückweg müssen wir aufpassen, dass uns niemand folgt«, flüsterte er mit schwacher Stimme.
»Kann sein, dass wir dieses Problem gar nicht haben werden. Ich weiß nämlich nicht, ob du in deinem Zustand den Rückweg überhaupt schaffst.«
»Gondel«, murmelte er. »Und dann auf Verfolger achten.«
Ich half Sebastiano beim Besteigen der nächsten verfügbaren Gondel und während er kraftlos auf der Sitzbank zusammensank, forderte ich den Gondoliere auf, nach Cannaregio zu fahren, also in die Richtung, die unserem Ziel entgegengesetzt lag.
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