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Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Titel: Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Finney
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zu lassen; in sein Gesicht kehrte die Farbe zurück.
    Er starrte an sich herab. Dann wanderten seine Hände nach oben zu dem Gürtel. Aber seine Fingerspitzen berührten nur das Leder. Carmody baute sich vor ihm auf. Sie sahen sich an: Ein schmales, fast gerades Band gerinnenden Bluts lief über Pickerings Schläfe, ein weiteres über die Stirn in eine dicke schwarze Augenbraue. »Sie haben eine unmögliche Situation herbeigeführt«, sagte Carmody. »Sie haben den Schlüssel gefunden.« Mit der Stockspitze berührte er die zusammengeknüllte Zeitungsseite, dann stieß er sie in unsere Richtung, wo sie unter dem untersten Brett durchrollte, an mir vorbei, und in den Schacht fiel. »Diese Saison ist die erste, in der meine Familie den ihr zustehenden Platz in der New Yorker Gesellschaft einnimmt. Und sie wird nicht die letzte sein. Dafür werde ich sorgen.« Er schloss den Koffer und stellte ihn auf den Boden. »Sie hätten sich bedienen sollen, solange Sie eine Chance dazu hatten. Nun werden Sie überhaupt nichts bekommen.« Carmody zog seinen Mantel aus, warf ihn auf das Rollpult, öffnete Kragen und Krawatte, knöpfte die Weste auf, entnahm seiner Westentasche eine Zigarre und zündete sie sorgfältig an. Als sie brannte, schüttelte er das Streichholz, warf es auf den Boden und trat es aus. Dann ging er zu einem der Aktenschränke und öffnete die oberste Schublade.
    Eine ganze Weile sagte er nichts, stand nur da, die Zigarre zwischen den Zähnen, und starrte auf die verschlüsselten Aktenmarkierungen. Jake Pickering konnte seinen Stuhl drehen und er sah ihm jetzt zu. Carmody warf ihm einen Blick über die Schulter zu, wollte etwas sagen, unterließ es dann jedoch. Er wandte sich wieder den Akten zu. Er begann vorne mit den Papieren und blätterte jedes einzeln durch. Es geschah fast rhythmisch. Für jedes Papierstück brauchte er etwa eine Sekunde, seine Hand gönnte sich kaum eine Pause, nur gelegentlich berührte er mit dem Zeigefinger seine Zunge oder nahm die Zigarre aus dem Mund, um die Asche auf den Boden zu klopfen. Selten nahm er ein Blatt heraus, er besah sie sich nur. Manchmal hielt er inne, nahm das Blatt zur Hand und las eine längere Passage. Zweimal legte er ein solches Blatt zur Seite, oben auf den Aktenschrank; die anderen warf er einfach zerknüllt auf den Boden.
    Ich nehme an, es befanden sich drei- bis viertausend, vielleicht sogar fünftausend Blätter in der sechzig Zentimeter langen Aktenablage. Die Uhr der City Hall schlug einmal; es war ein Uhr. Carmody war noch nicht einmal zur Hälfte mit der ersten Schublade durch, oben auf dem Aktenschrank lagen zwei Papiere. »Ich habe so lange gewartet«, sagte Pickering, »damit Sie selbst einen Blick darauf werfen können; Sie brauchen Stunden, um allein diesen Schrank zu durchsuchen, und insgesamt gibt es dreizehn davon. Eine Unglückszahl für Sie.«
    Carmody ging zu Jakes Rollpult hinüber und ließ seinen Zigarrenstumpen in den Spucknapf auf dem Boden fallen. Dann wandte er sich wieder der offenen Schublade zu, legte seine Hände auf die Akten, um die Suche wieder aufzunehmen, und lächelte über die Schulter Jake zu. »Ich habe die ganze Nacht«, sagte er freundlich. »Und wenn das nicht reicht, den ganzen morgigen Tag. Und danach so viel Zeit, wie erforderlich sein sollte.« Sein Zeigefinger nahm die gleichförmige Bewegung wieder auf, das ununterbrochene leise Geräusch raschelnden Papiers wurde Teil der Stille.
    Ich beugte mich nahe zu Julia hin, meine Lippen berührten ihr Ohr, und flüsterte ihr beinahe lautlos mit meinem Atem zu: »Legen Sie sich hin; ruhen Sie sich aus. Wir werden lange, vermutlich sehr lange hierbleiben.« Ich konnte ihr Gesicht klar erkennen; ein Streifen gelben Lichts aus dem anderen Raum bewegte sich über ihre Stirn, als sie nickte. Sie legte sich langsam und lautlos auf den Boden an der Wand. Vorsichtig lehnte ich meine Schulter und den Kopf gegen den Türpfosten und beobachtete Carmody mit einem Auge durch den Spalt. Fast regungslos stand er mit gebeugtem Kopf vor dem geöffneten Aktenschrank, nur die Arme und Hände waren in Bewegung.
    Als die Uhr draußen zweimal schlug, hatte Carmody etwa ein Drittel der mittleren Schublade geschafft. Pickering sprach ihn wieder an. »Mittlerweile dürften Sie bemerkt haben, dass sich nirgendwo eine komplette Akte befindet. Um alle Ihre Papiere zusammenzustellen – unzählige Dokumente, die über alle Schränke verteilt sind – brauchte ich vielleicht zwanzig Minuten. Das

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