Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
sie heranzukommen, musste ich meinen Arm um sie legen, was mir nicht eben unangenehm war. »Wach?« Ihr Haar kitzelte meine Nase, als sie nickte. Flüsternd erklärte ich ihr die Situation und nannte ihr die Uhrzeit. Sie fragte, ob ich geschlafen hatte; wir tauschten dann die Plätze; sie setzte sich auf, um die Wache zu übernehmen, während ich sofort einschlief.
Das erste Tageslicht, das auf mein Gesicht fiel, und die langsamen Schläge der Uhr der City Hall weckten mich. Ich öffnete die Augen; Julias Hand schwebte einen Zentimeter über meinem Mund, bereit, ihn zu verschließen, falls ich anfangen sollte zu reden. Ich hob meinen Kopf und küsste ihre Handinnenfläche. Verwirrt zog sie die Hand weg, dann lächelte sie. Sie deutete auf das andere Zimmer und legte den Finger auf die Lippen; ich nickte. Ich hatte die Schläge der Uhr mitgezählt; es war sieben. Als sie verstummten, hörte ich wieder, was ich die ganze Zeit über zu hören mir eingebildet hatte – das gleichmäßige Rascheln von Papier im Zimmer neben uns.
Leise bewegten wir uns auf die Bretterverschalung zu und setzten uns davor. Der Raum war nun erfüllt von schmutzig grauem Tageslicht. Auf der Fensterbank lag frisch gefallener Schnee, ansonsten aber hatte sich nichts verändert. Carmody saß auf dem Tisch und arbeitete sich durch einen Papierstapel; es war die unterste Schublade des dritten Schranks. Jake beobachtete ihn von seinem Platz aus; auf dem Kopf hatte er eine Beule von der Größe einer Faust, sein Gesicht wirkte verstört, die Augen waren gerötet, die Haut von tiefen Falten durchzogen, sein Mund stand ein wenig offen. Er hat Schmerzen, dachte ich, von dem Schlag auf seinen Kopf und vielleicht auch, weil er so verkrampft dasitzen muss. Aber auch Carmodys Gesicht wirkte müde, seine Augen waren trüb und dumpf. Ich fragte mich, ob er noch in der Lage war, die endlos vor ihm vorbeischwirrenden Papiere lesen zu können. Auf dem zweiten Aktenschrank lagen nun fünf Blätter.
Etwas musste jetzt geschehen; das war offensichtlich. Im vom Neuschnee nun sehr weißen Tageslicht blickte ich zu Julia, die neben mir stand; sie sah ausgeruht aus und lächelte. Dennoch war mir klar, dass weder sie noch ich hier viel länger bleiben konnten. Auch Carmody nicht. Er könnte zwar Jake Pickering einfach so zurücklassen, aber er selbst musste fort, musste etwas essen und dann wieder herkommen. Wenn er ging, nahm ich an, musste er Jake knebeln. Jake würde es sicher nicht wagen zu schreien und damit einen weiteren Schlag auf den Kopf zu riskieren. Aber sobald Carmody fort war, würde er ganz bestimmt versuchen sich bemerkbar zu machen – was ihm auch gelingen würde. Die Stadt war nun erwacht, Julia und ich konnten draußen vor dem Fenster die Alltagsgeräusche hören. Und auch das Gebäude erwachte langsam; zweimal hörte ich durch den offenen Schacht Schritte auf der Treppe. Was sollten wir tun, fragte ich mich, wenn Carmody ging? Wir konnten die gelockerten Bretter nicht zur Seite stoßen und durch Jakes Büro hinausspazieren, ohne von ihm gesehen zu werden. Ich lehnte mich an die Tür und sah hinunter. Neben und hinter mir waren die Bodenbretter entfernt, ich konnte weit in den Schacht hinunterblicken, der auf jedem Stockwerk durch die nach Osten gehenden Fenster zur Nassau Street erhellt wurde. Die Trägerbalken der Stockwerke unter uns waren bereits abgesägt; es gab für uns keine Möglichkeit, über den Schacht zu entkommen.
Und ich war müde. Mir taten alle Knochen weh von dem stundenlangen Sitzen und Liegen auf dem Holzboden. Ich hatte Hunger und Durst, und Julia ging es sicher ebenso. Aber wenn es eine Möglichkeit gab, hier nicht weiter ausharren und in das angrenzende Zimmer starren zu müssen, dann fiel sie mir nicht ein. Ich wiederholte mir einfach, dass etwas passieren würde, bald. Und als Julia mich anschaute, lächelte ich sorglos.
Etwa eine halbe Stunde später hörte Carmody auf. Er stand auf, ließ die Schultern und den Kopf kreisen und streckte den Nacken; er versuchte, seine Steifheit abzuschütteln. Fragend schaute er zu Jake hinüber; ich glaubte, seine Gedanken lesen zu können. Er fragte sich, ob er es wagen konnte, Jake alleine zu lassen, und wenn, wie er es anstellen sollte. Aber dann war ihm etwas eingefallen, auf das ich nicht gekommen war; er öffnete nacheinander alle Fächer von Jakes Schreibpult. Auch ich hatte diese Schubladen durchsucht und wusste, was er finden würde.
Als er bei der linken unteren Schublade
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