Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
ans Licht; es war, wie ich sehen konnte, eine lange Liste mit zwei Reihen. »›Mrs. Astor‹« las er vor, wobei seine Stimme die Anführungszeichen mitbetonten. »Das ist alles – denn wir wissen ja alle, welche Mrs. Astor gemeint ist, nicht wahr? Und ihr würde es ganz bestimmt etwas ausmachen, Mr. Carmody. ›Mrs. August Belmont‹ würde es etwas ausmachen. ›Mrs. Frederic H. Betts, Mrs. H. W. Brevoort, Mrs. John H. Cheever, Mrs. Clarence E. Day‹ – sie alle würden Sie weniger achten. Und ›Mrs. Stuyvesant Fish, Mrs. Robert Goelet, Mrs. Ulysses S. …‹«
»Was lesen Sie denn da überhaupt vor?«, unterbrach ihn Carmody barsch.
»Einige Namen, zufällig ausgewählt aus der Liste der Veranstalter des Wohltätigkeitsballs, der heute Abend in der Akademie für Musik stattfindet. ›Mrs. Oliver Harriman, Mrs. J. D. Jones, Mrs. Pierre Lorillard, Mrs. Thomas B. Musgrave, Mrs. Peter R. Olney, Mrs. John E. Roosevelt, Mrs. A. T. Stewart‹; ihnen allen würde es entschieden etwas ausmachen! Und ›Mrs. W. E. Strong, Mrs. Henry A. Taber, Mrs. Cornelius Van …‹«
»Das reicht.«
»Nicht ganz.« Pickering sah von seiner Liste auf. »Einen Namen habe ich übergangen: den wichtigsten von allen. Von allen auf dieser Liste wäre sie am meisten betroffen, denn niemals wieder würde ihr Name in solch illustrer Gesellschaft genannt werden.« Pickerings Zeigefinger ging an den Anfang der Liste, fuhr dann langsam nach unten und blieb fast sofort stehen. »›Mrs. Andrew W. Carmody‹«, las er vor, in diesem Moment sauste der silberne Löwenkopf kraftvoll auf seinen Kopf; wie eine von den Fäden gelöste Marionette fiel er in sich zusammen und stürzte über den Schreibtischstuhl, der quietschend über den Boden rutschte. Julia seufzte auf, mehr ein unterdrückter Schrei, der vom Kreischen des Stuhls übertönt wurde. Als sie aufstehen wollte, drückte ich sie an den Schultern nieder und flüsterte ihr ins Ohr: »Nein! Nein! Er ist nicht richtig verletzt!«, obwohl ich das natürlich nicht wusste.
Carmody starrte auf den gekrümmt am Boden liegenden Pickering; dann betrachtete er den von Blut geröteten Knauf des Stocks in seiner Hand. Er sah auf den offenen Koffer voller Geld, dann wieder auf den Boden – nicht zu Pickering, sondern auf das Zeitungsblatt, das sich noch immer in Pickerings Hand befand. Plötzlich beugte er sich hinab und löste es aus Pickerings Fingern. Er las es, überflog es und suchte nach dem Namen. Laut murmelte er: »›Mrs. Andrew W. Carmody‹.« Er starrte noch einen Augenblick auf die Liste, dann wieder auf den regungslosen Pickering. Plötzlich zerknüllte er das Blatt zu einem Ball und warf es auf Pickering. Er ließ den Stock zu Boden fallen, machte zwei große Schritte zum Schreibtischstuhl, zog ihn zu Pickering, beugte sich nieder und zog den bewusstlosen Mann darauf. Dort wäre Pickering, den Kopf nach vorne hängend, wieder herabgerutscht, hätte Carmody nicht den Stuhl so weit nach hinten gekippt, dass nur noch Pickerings Zehen den Boden berührten. Carmody löste Pickerings Gürtel und zog ihn aus den Schlaufen, wand ihn dann durch die Streben der Stuhllehne und versuchte ihn über Pickerings Brustkorb und Oberarmen zu schließen. Die Gürtelschnallen trafen sich nicht, mit dem angezogenen Knie hielt Carmody den Stuhl gekippt, löste seinen eigenen Gürtel und zog ihn durch die Schnalle von Pickerings Gürtel. Dann wand er den doppelten Gürtel über Pickerings Brust und Oberarme, gerade über den Ellbogen. Die Schnallen an der Stuhllehne zog er so fest an, dass wir Leder und Holz knarren hörten; ich fragte mich, ob Pickering überhaupt noch atmen konnte.
Er konnte es: Er bewegte sich, als Carmody fertig war, murmelte etwas, Speichel floss aus dem rechten Mundwinkel, und mit noch immer geschlossenen Augen versuchte er, den Kopf zu heben. Carmody trat zurück, ergriff seinen Stock und stellte sich schnell wieder hinter Pickerings Stuhl. Jake hob seinen Kopf, er öffnete die Augen, blinzelte und schloss sie sofort wieder, als er jetzt den Schmerz des Schlages spürte. Sein Kopf musste teuflisch wehtun; sein Gesicht wurde kreidebleich, er keuchte, und seine Schultern zogen sich zusammen, als kämpfe er gegen eine Ohnmacht an. Einige Sekunden lang bewegte er sich nicht. Dann hob er ganz langsam wieder den Kopf und öffnete ein wenig die Augen, um sie ans Licht zu gewöhnen. Wieder zogen sich die Schultern zusammen, dann war er – blinzelnd – in der Lage, die Augen offen
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