Zentauren-Fahrt
Jetzt, da sie sich wieder im magischen Feld befanden, besaß der Oger wieder seine alte Kraft, war das Boot belebt. Die schwarzen Wogen schwappten rasch vorüber.
»Ich wünschte, ich hätte gewußt, daß das alles ist, was wir zu tun brauchen, um König Trent ausfindig zu machen«, sagte Dor. »Dann hätten wir uns die Reise ins neuzeitliche Mundania ersparen können.«
»Auf keinen Fall!« widersprach Arnolde und ließ seinen Schweif wedeln. »Wir hätten zwar dieses Fenster entdecken können, das stimmt; aber jeder Fenstereingang führt in eine völlig andere mundanische Welt. Wir hätte die Fährte schon bald wieder verloren, hätten uns verirrt und wären nicht mehr dazu in der Lage gewesen, irgend jemanden zu retten. So wissen wir immerhin, daß wir nach Onesti wollen, und wir wissen auch, wo das liegt. Das erleichtert unsere Aufgabe erheblich.« Der Zentaur hielt inne. »Abgesehen davon bin ich äußerst froh, Ichabod kennengelernt zu haben.«
Also hatte ihre erste Reise doch einen Sinn gehabt. »Was für Leute siehst du hier in der Regel?« fragte Dor das Wasser.
»Hartgesottene Burschen mit bauschigen Kleidern und Schwertern und Bogen«, gab das Wasser zur Antwort. »Allerdings halten sie sich nicht allzu häufig auf dem Wasser auf; nicht wie die Griechen damals.«
»Das sind vermutlich die Bulgaren«, folgerte Arnolde. »Ichabod zufolge mußten die in den letzten paar Jahrzehnten hier vorbeigezogen sein.«
»Wer sind denn die Bulgaren?« fragte Irene. Jetzt, da sie die eigentliche Spur ihres Vaters verfolgten, interessierte sie sich wesentlich mehr für Einzelheiten.
»Das ist ziemlich kompliziert. Ichabod hat mir zwar einige Einzelheiten genannt, aber es ist durchaus möglich, daß ich noch längst nicht alles darüber weiß.«
»Wenn das die Leute sind, die mein Vater getroffen hat, und wenn auch wir auf sie treffen werden, dann will ich auch alles über sie wissen.« Ihr Gesicht trug einen entschiedenen Ausdruck.
Das Boot schoß schnell voran, denn die Kraft des Ogers war gewaltig. Die Küstenlinie erstreckte sich mit ihren Buchten immer weiter vor ihnen. »Wir haben eine mehrtägige Reise vor uns«, sagte der Zentaur. »Zweifellos wird uns diese Zeit gelegentlich als etwas lang erscheinen.« Er holte pädagogisch viel Luft und begann mit seiner historischen Abhandlung, während der Oger desinteressiert eine Grimasse zog und Grundy sich in seinem Nest schlafen legte. Dor und Irene jedoch lauschten ihm aufmerksam.
Im Prinzip sah es so aus: Drei Jahrhunderte zuvor hatte es in dieser Region ein großes mundanisches Reich gegeben, das, wie Dor es verstand, Rohm geheißen hatte, vielleicht weil es so weiträumig gewesen war. Doch nach langer Zeit verfiel dieses Reich schließlich und wurde immer schwächer. Da war aus dem östlichen Binnenland ein vormals ruhiger Stamm, die Hunnen, eingefallen und hatte einige andere Stämme vor sich hergetrieben. Vielleicht war »Hunnen« ja die Abkürzung für »Hungrige«, wegen ihres Machthungers. Diese Stämme hatten das Röhmische Reich überfallen und zum großen Teil zerstört. Doch als der Hungrige Häuptling, Attaboy, an Verdauungsschwierigkeiten gestorben war, wurden sie besiegt und teilweise wieder zurückgedrängt, an die Küste dieses Schwarzen Meeres, dessen Farbe trefflich ihre damalige Stimmung widerspiegelte. Eine Weile lang kämpften sie ein bißchen gegeneinander, wie es Leute zu tun pflegten, die unter schwarzer Laune litten; dann vereinigten sie sich wieder und nannten sich Bulgaren, kurz: Bullen. Doch die Bullen wurden von einem anderen wilden Stamm der Türken – die nichts mit Türen zu tun hatten –, nämlich den Khazaren, aus ihrem neuen Land verjagt. Einige der Bullen flohen gen Norden und manche gen Westen – und das hier war das Gebiet, das die westlichen Bullen besiedelt hatten, hier am Westrand des Schwarzen Meers. Weiter kamen sie nicht, denn dort gab es einen weiteren wilden Stamm, die Avaren. Die Avaren besaßen ein riesiges Reich im östlichen Europa, das aber gerade im Untergang begriffen war, vor allem wegen der Angriffe durch die Khazaren. Im Augenblick, cirka AD 650 mundianischer Zeitrechnung – die Zahl bezog sich auf irgendeine mundanische Religion, der keine dieser Parteien angehörte –, herrschte in dieser Region ein unruhiges Gleichgewicht zwischen den drei Mächten, also den Avaren, Bulgaren und Khazaren, wobei die Khazaren dominierten.
Irgendwie war das für Dor viel zu kompliziert. All diese fremdartigen Stämme
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