ZeroZeroZero: Wie Kokain die Welt beherrscht
bezeichnet Kriminelle, die die Ehre erworben haben, entsprechend den Regeln das Kommando zu führen. Er hätte bis 1995 im Gefängnis bleiben müssen, aber die Tentakeln der Mafija reichen in alle Bereiche der Gesellschaft, von der Politik bis zum Sport, von den Institutionen bis zum Showgeschäft. 1990 starten zwei populäre Persönlichkeiten - ein Sänger, der als der russische Frank Sinatra gilt und ebenso gefährliche Bekanntschaften pflegt, und ein ehemaliger russischer Champion im griechischrömischen Ringkampf, der eine Vereinigung pensionierter Athleten zur Tarnung mafioser Interessen benutzt - eine Kampagne, die von zahlreichen Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und Sport unterstützt wird: Iwankow habe seine Schuld hinreichend verbüßt, es sei Zeit, ihn freizulassen. Schließlich reicht ihm auch noch Semjon Mogilewitsch seine freundschaftliche Hand: Er überschüttet den zuständigen Richter mit Geld und wendet sich an einen hohen sowjetischen Funktionär. Der kleine Japaner kommt 1991 frei.
Der Eiserne Vorhang ist gefallen, die Sowjetunion bricht zusammen, Russland verändert sich und seine Hauptstadt auch. Nun brechen die Fehden auf: Russen gegen Tschetschenen. Es fließt Blut ohne Ende, aber mehr wegen der gegensätzlichen Interessen als aus ethnischem Hass. Iwankow ist ein wor vom alten Schlag, einer, der nichts delegiert, und wenn es darum geht, sich die Hände schmutzig zu machen, kneift er nicht. Er fängt an, die Tschetschenen und ihre Geschäftsfreunde umzulegen, einen nach dem anderen. Aber eine Grundregel besagt, je mehr du umbringst, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass es dir früher oder später jemand mit gleicher Münze heimzahlt. Und nicht nur das. All die Toten und das ganze Gerangel fangen an, der Mafija-Führung lästig zu werden, und sie beschließt, Iwankow in die Vereinigten Staaten zu schicken. Zwei Fliegen mit einer Klappe: relative Ruhe zu Hause und neue Geschäftsfelder in den USA. Jetzt, da die Grenzen offen sind, ist es einfach. Man braucht nur in der
amerikanischen Botschaft in Moskau ein zweiwöchiges Visum zu beantragen. Wjatscheslaw Iwankow besteigt das Flugzeug als filmischer Berater der Gesellschaft eines russischen Magnaten, der seit Jahren in New York lebt. Er benutzt seinen richtigen Pass, kaum ein Jahr nach seiner Haftentlassung in der Heimat, die inzwischen offiziell wieder zur freien Welt gehört. Die Sowjetunion hat sich erst zweieinhalb Monate vorher aufgelöst.
In New York ist bei der Ankunft Iwankows schon alles vorbereitet, angefangen mit dem Geld, das der kleine Japaner sofort investiert, um sich ein neues Leben aufzubauen. Für nur 15 000 Dollar kauft er sich eine Scheinehe mit einer in den USA ansässigen russischen Sängerin. Er bezieht Quartier in Brighton Beach, Brooklyn, genannt »Little Odessa«, weil sich seit den siebziger Jahren hier viele Juden aus der Sowjetunion niedergelassen haben. Es gibt das Meer und den Strand, aber wer sich einen Schmelztiegel mit Geigen und Balalaikas vorstellt, liegt falsch. Das Typischste, was die Einwanderer in ihre müllverdreckten Backsteinwohnblocks mitgebracht haben, ist die Mafija mit dem »j«.
Das dritte Foto im Familienalbum zeigt eine andere Szenerie. Dem geschickten Fotografen ist es gelungen, die Ödnis durch das Farbenspiel des in der Dämmerung entflammten Himmels und des eisigen kleinen Sees am Rand der Siedlung abzumildern. Aber auch der versierteste Künstler kann nichts ausrichten gegen die präpotente Wucht der Mietskasernen, die den Horizont beherrschen. Am westlichen Stadtrand Moskaus schießen sie unvermittelt aus dem Boden, mitten in einem riesigen Park, der von einer vierspurigen Straße regelrecht zerschnitten wird. Aus der Ferne wirken die Betonklötze wie gigantische Kaninchenställe. Die weiß gestrichenen, vom Smog
verdreckten Fassaden strahlen Anonymität aus, und kläglich ist der Versuch, den Eindruck eines Wohn- und Geschäftsviertels zu erwecken. Solnzewo ist ein Arbeiterbezirk, dessen Errichtung von den sowjetischen Behörden 1938 beschlossen wurde. Die Beamten hatten Sinn für Humor. Solnze bedeutet im Russischen »Sonne«, doch in Solnzewo wird das Licht von den Häusern zurückgeworfen, und es herrscht überall Schatten. Hier entsteht die Solnzewskaja Bratwa, die Bruderschaft von Sol-nzewo. Schweiß und körperliches Kräftemessen, das ist das Lebenselixier der Solnzewskaja Bratwa, deren Gründer Sergej Michailow heißt, genannt »Michas«. Er wurde in diesem Viertel
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