ZeroZeroZero: Wie Kokain die Welt beherrscht
waren willkommen, denn alle brauchten Geld, um zu überleben. Die Mafija war überall. Die Mafija war zum Staat geworden.
1993 gab es allein in Moskau 1400 Morde im Zusammenhang mit der organisierten Kriminalität, ganz zu schweigen von dem steilen Anstieg der Zahl von Entführungen und Bombenanschlägen. Man verglich Moskau mit dem Chicago der zwanziger Jahre. Unternehmer, Journalisten, die Familien der Kriminellen, niemand konnte sich sicher fühlen. Man kämpfte um die Kontrolle der Fabriken, der Bergwerke und ganzer Landstriche. Betriebe und Unternehmen waren gezwungen, sich mit der Unterwelt ins Vernehmen zu setzen, andernfalls wurden sie beseitigt. Für den ehemaligen FBI-Agenten Robert Levinson, der sich in seiner Laufbahn mit der italoamerikanis-chen, sizilianischen, kolumbianischen und russischen Mafia befasst hat, ist Letztere die gewalttätigste. Eins ist jedoch neu: Die Russen sind häufig akademisch gebildet, sie sprechen viele Sprachen, treten als Ingenieure, Wirtschaftsfachleute, Wissenschaftler und leitende Angestellte auf. Es sind gebildete Mörder, und als man das im Ausland langsam begreift, ist es bereits zu spät. Die Mafija hat nicht nur das Machtvakuum in
Russland gefüllt. Ihre meistgefürchteten Vertreter sind schon weitergezogen und sind dabei, ihre eigenen Vorstellungen von einer neuen Welt umzusetzen.
»Der Tod folgt dir überallhin«, pflegt Sergej, einer von Mo-gilewitschs engsten Vertrauten, zu sagen. Sergej ist ein kleiner, unscheinbarer Mann, der sich wie ein Bettler kleidet und deshalb kaum auffällt. Don Semjon verachtet ihn, aber er ist ihm nützlich, denn um unantastbar zu sein, darf man sich keiner Bedrohung aussetzen. Und das tut Sergej nicht. Alle in der Stadt wissen, dass er immer einen kleinen Koffer bei sich hat. Kaum jemand kennt seinen Inhalt. Selbst Mogilewitsch redet nicht darüber, nicht einmal mit seiner Frau. Eines Tages wurde Sergej von einem Konkurrenten Mogilewitschs gekidnappt, einem Unternehmer, der sich um öffentliche Aufträge der Moskauer Stadtverwaltung bemühte. Sergej ließ sich widerstandslos in den dunklen Keller eines anonymen Wohnhauses an der Moskauer Peripherie verschleppen. Keine Beschwörung, keine Bitte, ihn gehen zu lassen, keine Androhung von Vergeltungsmaßnahmen seines mächtigen Paten. Sergej braucht nur seinen Koffer zu öffnen, und einen Tag später - in den üblichen abgetragenen Klamotten, mit seinem abwesenden und gleichgültigen Blick - klopft er an Mogilewitschs Tür. »Wie hast du das geschafft?«, fragt ihn sein Boss, der ausnahmsweise den Blick und die Hände vom Laptop nimmt. Sergej tritt an seinen Schreibtisch heran, auf dem er den Koffer ablegt. Klick, klack, mit einer schnellen Handbewegung dreht er ihn um hundertachtzig Grad. Mogilewitsch verzieht keine Miene, als er sich selbst zusammen mit Sergej auf einem Foto aus den seltenen Urlaubstagen am Schwarzen Meer erkennt. Er kann sich nicht daran erinnern, dass Sergej diese harmlose
Aufnahme von dem Strandidyll gemacht hat, die ihm garantiert, dass niemand ihm ein Haar krümmt. Sergej grinst, schließt den Koffer und dreht ihn wieder um hundertachtzig Grad.
Vielleicht war es die Entführung Sergejs oder der in Moskau tobende Krieg der kriminellen Gangs, jedenfalls kommt Mo-gilewitsch zu dem Schluss, es sei besser, die Stadt zu verlassen. Geld hat er genug, er hat bereits mehrere Millionen Dollar angehäuft, die er zum großen Teil dank seiner gefährlichsten Waffe gemacht hat: seinem Spürsinn für Finanzgeschäfte.
Kaum öffnet die Perestroika die Tore für private Unternehmen, gründet er mehrere Gesellschaften, offiziell für den Import und Export von Treibstoffen. Ihr Sitz ist - weit entfernt von den Kremltürmen - auf einer Insel des Ärmelkanals. Eine dieser Gesellschaften heißt Arigon Ltd., die andere Arbat International, welche zur einen Hälfte Mogilewitsch, zur anderen dem kleinen Japaner und den Bossen der Solnzewo-Gruppe, Sergej Michailow und Viktor Awerin, gehört. Gestützt auf diese schriftlich besiegelten freundschaftlichen Beziehungen, braucht Mogilewitsch nur noch seine Koffer zu packen. 1990 beschließt er, zusammen mit seinen engsten Vertrauten nach Israel zu gehen. Sie sind die Avantgarde der zweiten jüdischen Einwanderungswelle aus der Sowjetunion, die zugleich die zweite Welle des Zustroms von Mafiosi ist, nach jener in den siebziger Jahren, von der Mogilewitsch zu profitieren wusste. Damals waren nicht nur unbescholtene Verfolgte des Regimes
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