ZeroZeroZero: Wie Kokain die Welt beherrscht
schätze, wie viele Mulis, Drogenkuriere mit dem Magen voller Kokainkapseln, mit an Bord sein mögen. So denken die
Drogenbosse, und so denke auch ich, seit ich versuche, ihre Mentalität zu ergründen.
Bei Babywindeln geht es mir genauso. Was gibt es Unschuldigeres als Babywindeln? Aber ich muss an die Frau aus den Antillen denken, die 2009 am Flughafen AmsterdamSchiphol festgenommen wurde, nachdem die Polizei in den Windeln ihrer zweijährigen Tochter versteckt ein Kilo Drogen fand. Es gibt äußerst gut organisierte Gangs, die ihre eigenen Kinder für den Drogentransport einsetzen, indem sie ihnen kleine Beutel mit flüssigem Kokain in die Windeln legen. Das lässt sich leichter transportieren und verstecken, da es beim Durchleuchten schwerer zu erkennen ist. Es hat aber auch Nachteile. Kokain ist zwar leicht löslich, doch das Verfahren zur Kristallisation, um es dann verkaufen zu können, bedeutet nicht unerhebliche zusätzliche Kosten. Auch Behinderte sind willkommen. Wer würde es sich erlauben, einen Beinamputierten im Rollstuhl einer Durchsuchung zu unterziehen?
Niemand, es sei denn, der Drogenspürhund schlägt an, weil sich im Rollstuhlgestell Kokain befindet, wie bei einem jungen Dominikaner im September 2011. Solche Beispiele gibt es zuhauf. Koks in Gitarrenkästen. Koks unter dem Talar eines falschen Priesters. Koks im Magen zweier Labrador-Retriever. Koks in einer Ladung von zweihundert Schachteln roter Rosen. Koks im Inneren unverdächtiger Zigarren versteckt. Bonbons und Kekse mit Koksfüllung. Koks in Lebensmitteltüten aufgelöst. Flüssiges Koks in notdürftig verknoteten Kondomen.
Auf Curaijao gibt es eine Schule. Angehende Drogenkuriere aus der ganzen Welt finden sich dort ein, um von den Drogenhändlern zu lernen, wie man die Kapseln verpackt und schluckt, ohne Schaden zu nehmen. Sie nutzen ihren Magen als Depot während der Flüge. In der ersten Phasen der Schulung
schlucken die Kuriere große Traubenkerne, Karotten- oder Bananenstücke, anschließend mit Puderzucker gefüllte Kon-dome. Zwei Wochen bevor es losgeht, muss der Muli eine Diät beginnen, um seine Verdauung unter Kontrolle zu bringen. Er darf nur noch leichte Kost zu sich nehmen. Damit die Kapseln in der Größe der Plastikverpackung von Überraschungseiern im Magen bleiben, darf er nur noch Obst und Gemüse essen. Zwei Stunden dauert es, bis sich die hinuntergewürgten Kapseln im Magen abgesetzt haben. Eine schmerzhafte, sehr schmerzhafte Prozedur. Der Muli macht also ein paar Schritte, streicht über seinen Bauch, um die Kapseln hinunterzuschieben, hilft mit ein wenig Vaseline nach, eventuell mit etwas Joghurt. Der Magen ist ein Behälter, den man optimal nutzen kann, und auch ein halbes Glas Wasser würde Platz wegnehmen. Ein Anfänger schafft es, dreißig bis vierzig Kapseln zu schlucken, ein gewiefter Profi bringt es auf bis zu hundertzwanzig. Den Rekord hält wohl ein Mann, der 2009 am Flughafen Amsterdam-Schiphol mit 2,2 Kilo Kokain in 218 Kapseln festgenommen wurde.
Jede Kapsel enthält fünf bis zehn Gramm Kokain. Wenn auch nur eine dieser Kapseln während des Flugs aufbricht, stirbt der Muli unter grausamen Qualen an der Überdosis. Wenn er aber sein Ziel erreicht, wird dieses Kokain, das auf den Antillen 3000 Euro pro Kilo kostete, je nach europäischem Vertriebsland 40 000 bis 60 000 Euro pro Kilo einbringen. Im Straßenverkauf kann ein Gramm bis zu 130 Euro erbringen. Deshalb müssen die Kuriere strenge Regeln befolgen. Bevor sie die Kapseln hinunterschlucken, nehmen sie Mittel gegen Brechreiz und Durchfall sowie Anticholinergika zur Entspannung ein. Auch während des Flugs dürfen sie nur Milch, Säfte und Reis zu sich nehmen. Vom Zeitpunkt des Verschluckens an stehen dem Muli höchstens sechsunddreißig Stunden zur Verfügung, um die Kapseln wieder auszuscheiden und coronar, wie die Kolumbianer es nennen: die Sache zu einem guten Abschluss zu bringen. Der Begriff stammt aus dem Damespiel. Wenn ein Spielstein die gegnerische Grundlinie erreicht, wird er dadurch »gekrönt« und zur Dame.
Europa braucht Kokain, viel Kokain. Es kann gar nicht genug kriegen. Die Alte Welt ist zur neuen Frontlinie der Narcos geworden. Zwanzig bis dreißig Prozent der weltweiten Produktion reinen Kokains landen bei uns. Auf einen Schlag hat das Kokain einen neuen Kundenstamm gewonnen. Bis 2000 war es den wohlhabenderen Kreisen vorbehalten, inzwischen ist es jedermann zugänglich. Jugendliche, die sich früher davon fernhielten,
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