ZeroZeroZero: Wie Kokain die Welt beherrscht
worden. Du hättest dein Kind, deine Frau oder deine Mutter verlieren können. So hast du Glück gehabt, du musst dich nur um die Albträume des Kleinen kümmern und darum, dass er, gerade von den Windeln entwöhnt, das Bett nässt. Du sagst dir immer wieder: Gott sei Dank ist nichts passiert, aber das reicht nicht. Also reagierst du, sobald sich eine Gelegenheit bietet. Du
findest die Kraft, dich mit anderen zusammenzutun, um gemeinsam den Tod derer anzuprangern, die es verdient hätten zu leben.
Es sind Rufe, die aus Neapel kommen und die für Neapel bestimmt sind. Der Körper dieser Stadt mobilisiert seine Kräfte, um die Wunde zu schließen. Trotz allem empfinde ich es als Erleichterung zu wissen, dass so etwas geschieht: dank der Lebensenergie, die von Wut und Angst in den Körper gepumpt wird, nicht nur aus einem physischen Reflex heraus. Aber die Logik, wonach ich, der die Dinge erzählt hat, ohne sie zu lösen, schlichtweg an allem schuld bin, ist nicht allzu weit von der Denkweise entfernt, die die Leute in ihrer Empörung auf die Straße treibt. Es ist die Logik des Drinseins oder Draußenseins. Das Drinnen oder Draußen lässt sich nicht an der Wohnsitzbescheinigung ablesen. Es wird von dem bestimmt, was an diesen Orten seit jeher vor sich geht. Von der Erfahrung des Bandenkriegs. Nur wer diese Fehde miterlebt, kann verstehen, nur wer diese Erfahrung macht, gehört dazu. Die Logik des Kriegs weiß sich zu schützen, indem sie unüberwindliche Schutzwälle hochzieht.
Ich habe versucht, mich damit zu arrangieren, dass meine Äußerungen über Neapel, so laut ich auch rufen mag, einerseits immer weniger Widerhall finden und andererseits aus der Stadt selbst ein schmerzliches Echo zurückwerfen, das, was ich sage, sei unzulässig. Jahrelang habe ich anderswo auf der Welt untersucht und verfolgt, was ich von Scampia und Casal di Principe kenne, und meine Obsession auf die globale Ebene erweitert - vielleicht ein Versuch, den einzig gangbaren Fluchtweg anzutreten, die Flucht nach vorn.
Was sind die Ermordeten von Scampia und Umgebung im Vergleich zu denen von Ciudad Juarez? Was zählt der einzige
Drogensupermarkt Europas unter freiem Himmel verglichen mit den Geschäften der Mafiafamilien in der kalabrischen Lo-cride? Ein ’Ndrangheta-Mitglied würde sich vielleicht nicht einmal die Mühe machen zu antworten. Die Kalabresen verachten die Neapolitaner, das belegen viele Abhörprotokolle. Sie betrachten sie als Leute, die einander um einer Nichtigkeit willen massakrieren, zu viel Lärm machen und zu chaotisch sind. Bosse, die ihre Autos und ihre Frauen zur Schau stellen, stets herausgeputzt sind und von den Schuhen bis zum Unterhemd nur teuerste Markenware tragen. Clans, die in nur acht Jahren zwei Generationen von Bandenchefs den Garaus gemacht haben.
Der älteste Boss dieser neuen Phase wird F4 genannt, was für »figlio quattro«, Sohn Nummer vier, steht. Marco Di Lauro folgte auf Cosimo, Vincenzo und Ciro, die alle im Gefängnis sitzen. Er ist untergetaucht und erweist sich als würdiger Nachfolger seines Vaters Paolo. Er macht keinen Fehler, bleibt unauffällig und konsumiert keine Drogen. Seine einzige Leidenschaft sind frisierte Autos und die Körperpflege. Dennoch erwartet ihn bereits eine lebenslange Haftstrafe als Auftraggeber des Mordes an Attilio Romano am 24. Januar 2005, drei Tage nach der Verhaftung seines Bruders Cosimo.
F4 war vierundzwanzig Jahre alt, als er seine Hände mit unschuldigem Blut befleckte.
Dann kommen Rosario Guarino, neunundzwanzig, und Antonio Mennetta, achtundzwanzig, die Bosse des Girati-Clans, der nicht einmal einen Familiennamen hat, sondern nur den Namen des Ortes, an dem sein Eroberungsfeldzug begann: Via Vanella Grassi, eine Sackgasse in der Altstadt von Secondigliano.
Guarino trägt den Spitznamen Joe Banana, weil ein Freund angeblich zu ihm gesagt hat: »Hey, du wirst zu fett. Du isst zu viele Bananen, wie Bud Spencer im Film.« Mennetta ist als »Er Nino« (im römischen Dialekt) bekannt oder als »El Nino« (in einer exotischeren spanischen Fassung). Nach Aussage von Kronzeugen war er während des ersten Bandenkriegs Mitglied einer Zelle des Di-Lauro-Clans, wechselte aber später zu den Sezessionisten. Angeblich fing er an zu schießen, kaum dass er das Führerscheinalter erreicht hatte. Im Übrigen wurde für den Mord eines erst siebenundzwanzig Jahre alten Bosses derselben Gruppe ein Siebzehnjähriger verhaftet, Alessandro, der damals ebenfalls dem
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