ZeroZeroZero: Wie Kokain die Welt beherrscht
verstehen. An seinem Verhalten war nichts Verschwörerisches. Er hatte die Anweisung, mir diese Geschichte zu erzählen, und das tat er ohne Umschweife. Ich erinnere mich sehr genau daran, denn sie ließ mich nicht mehr los. Im Lauf der Zeit bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass wir unsere Erinnerungen nicht nur im Kopf speichern. Sie lagern nicht alle in einem bestimmten Areal unseres Gehirns. Ich bin immer mehr überzeugt, dass auch andere Körperteile ein Gedächtnis haben. Leber, Hoden, Fingernägel, Rippen. Worte, die ein Gewicht haben, bleiben dort haften. Und wenn sich diese Körperteile erinnern, schicken sie das, was sie gespeichert haben, ans Gehirn. Am häufigsten erinnere ich mit dem Magen, der das Schöne und das Schreckliche bewahrt. Ich weiß es, weil der Magen sich regt. Und manchmal regt sich auch der Bauch. Das Zwerchfell - eine dünne Muskel- und Sehnenschicht, eine Membran, die bis in die Körpermitte wächst - erzeugt Schwingungen. Hier nimmt alles seinen Ausgang. Das Zwerchfell ist immer beteiligt: wenn wir keuchen und wenn wir erschaudern, wenn wir pinkeln, unseren Darm entleeren und uns übergeben; es steuert auch das Pressen bei den Geburtswehen. Und mit Sicherheit gibt es einen Ort, wo sich das Schlimmste anlagert, der Unrat. Wo genau in meinem Körper dieser Ort liegt, weiß ich nicht, aber er ist randvoll. Er quillt fast über, nichts passt mehr hinein. Da, wo bei mir der Bodensatz der Erinnerungen lagert, ist kein Platz mehr. Das klingt wie eine gute Nachricht: Es gibt keinen Raum mehr für den Schmerz. Aber so ist es nicht. Wenn der dafür bestimmte Ort voll ist, lagert sich der Unrat auch dort ein, wo er gar nicht hingehört, dort, wo andere Erinnerungen gespeichert sind. Die Geschichte des Polizisten hat jenen Ort in mir, wo die Erinnerungen an die schlimmsten Dinge gespeichert sind, endgültig zum Überlaufen gebracht. All das, was wieder zum Vorschein kommt, wenn du das Gefühl hast, es geht aufwärts, wenn ein strahlender Tag beginnt, wenn du wieder zu Hause bist und denkst, es hat sich letztlich doch gelohnt. In solchen Augenblicken kommen von irgendwoher dunkle Erinnerungen hoch wie Erbrochenes. Wie der Müll auf einer mit Plastikplanen bedeckten Deponie unter der Erde, der einen Weg nach oben findet, um alles zu vergiften. In diesem Teil meines Körpers bewahre ich die Erinnerung an jene Geschichte auf. Es ist sinnlos, die genauen Koordinaten ermitteln zu wollen, denn selbst wenn ich diesen Ort fände, es würde nichts nützen, ihn mit Fäusten zu traktieren oder mit dem Messer zu bearbeiten oder daran herumzudrücken, um die Worte wie Eiter aus einem Pickel herauszupressen. Alles ist dort drin.
Alles muss dort bleiben. Schluss, aus.
Der Polizist sagte mir, sein Informant habe die einzige Lektion gehört, die zu hören sich lohne, und sie heimlich aufgezeichnet. Nicht um sie der Polizei in die Hände zu spielen, sondern um sie sich immer wieder anzuhören. Eine Lektion
darüber, wie man sich auf der Welt behaupten kann. Und dann habe er ihn mithören lassen: ein Knopf im Ohr des Polizisten, den anderen im Ohr des Informanten, der voller Aufregung auf Start drückte.
»Also, du schreibst darüber, und wir schauen, ob jemand an die Decke geht. Das würde nämlich bedeuten, dass die Geschichte stimmt, es wäre die Bestätigung. Wenn du darüber schreibst und keiner rührt sich, dann ist es entweder der Schwindel eines B-Schauspielers und unser Chicano hat uns an der Nase herumgeführt, oder niemand glaubt den Quatsch, den du schreibst, und in dem Fall sind wir angeschmiert.«
Er fing an zu lachen. Ich nickte. Ich machte keine Versprechungen, ich versuchte zu verstehen. Diese sogenannte Lektion hatte also ein alter italienischer Boss erteilt, bei einer Zusammenkunft von Chicanos, Italienern, Italoamerikanern, Albanern und ehemaligen Kaibiles, guatemaltekischen Legionären. Das behauptete jedenfalls der Informant. Die Lektion enthält keine Fakten, Zahlen oder Details, nichts, was man auswendig lernen muss. Du betrittst einen Raum als ein bestimmter Mensch und verlässt ihn als ein anderer. Du trägst noch dieselbe Kleidung, denselben Haarschnitt, dein Bart ist nicht gewachsen. Du hast keine Schrammen davongetragen, keine Schnitte über den Augenbrauen, keine gebrochene Nase. Man hat dir nicht den Kopf gewaschen, dir keine Strafpredigt erteilt. Du trittst ein, und du gehst wieder, auf den ersten Blick derselbe wie zuvor. Aber nur äußerlich. Innerlich bist du ein völlig
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